Unerklärlich gilt nicht
Früher glaubte man, die Pest sei eine Strafe der Götter. Weil es keine bessere Erklärung gab. Mit der Entdeckung des gramnegativen Stäbchenbakteriums Yersinia pestis ist Gott von der Bühne der Pestentstehung sang- und klanglos abgetreten.
Im Mittelalter waren es dann die Säfte. Schwindsucht? Ein Mangel an Gallenflüssigkeit. Hier ging der Punkt allerdings im letzten Jahrhundert ans Mycobacterium tuberculosis.
Die 70-er Jahre brachten uns dann den Streß als universales Erklärungsmodell. Sie haben ein Magenulcus? Ganz klar: der Streß hat Ihnen auf den Magen geschlagen. Erneut zog ein Bakterium an allen hartnäckig vertretenen Erklärungen vorbei. Am Schluss musste man dem unscheinbaren Helicobacter pylorii die Deutungshoheit übers Magenulcus überlassen.
Der zweite Frühling des HB-Männchens
Das Allzweck-Erklärungsmodell des einundzwanzigsten Jahrhunderts lautet psychisch. Psychisch, das ist praktisch Streß Plus. Dabei ist es inzwischen nicht mal mehr erforderlich, kein somatisches Erklärungsmodell zu haben. Nehmen wir das Beispiel des Herzinfarktes. Jeder weiß, dass dieser eine Folge verschlossener Herzkranzgefäße ist. Egal. Das frühere Erklärungsmodell, der Herzinfarkt sei streßbedingt, hat einfach die Zeit überdauert. Nun halt angereichert mit: „Ja, wenn man viel Streß hat und sich immer so viel abverlangt, dann schlägt das halt aufs Herz. Es gibt sicher unbearbeitete Konflikte, die kann man doch nicht leugnen. Eine Psychotherapie kann auf jeden Fall nicht schaden.“ Natürlich ist es tatsächlich so, dass Streß die Beschwerdesymptomatik einer Herzgefäßerkrankung verstärken kann, und daher kann auch Psychotherapie sinnvoll sein. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss man aber anerkennen, dass der handelsübliche Herzinfarkt schlicht und ergreifend vom verschlossenen Herzkranzgefäß kommt. Und das verschließt sich eher als eine Folge der Arteriosklerose nach langem Rauchen als infolge von Streß, was auch schon mal zu einem kurzfristigen Arterienspasmus führen kann. ### Warum falsche Erklärungsmodelle schlecht sind 1) Die Wahrheit hat ein Recht an sich Die Welt ist vor allem deshalb ein besserer, angstfreierer und angenehmerer Ort geworden, weil sich im Laufe der Zeit eben die Wahrheit durchgesetzt hat. Selbst, wenn die Wahrheit mal unwillkommen ist, hat sie aus sich heraus ein natürliches Anrecht auf Gehör. Das nennt man Aufklärung und ist eine gute Sache. 2) Nur die richtige Erklärung macht den Weg für die richtige Therapie frei Beispiel Herzinfarkt: Nur die Erklärung „Gefäßverschluß“ macht den Weg frei, dem Patienten zu erklären, dass er das Rauchen aufgeben muss, abnehmen soll und seinen Bluthochdruck einstellen lassen sollte. Gäbe man sich mit der Erklärung „Streß“ zufrieden, müsste er all diese Anstrengungen nicht auf sich nehmen und könnte es bei einem Achtsamkeits-basierten Yoga-Kurs belassen. Natürlich kann ein Herzinfarkt extreme Ängste, auch Todesangst, verursachen; und diese Ängste können ja absolut realistisch und angemessen sein. Und natürlich können in diesem Fall Psychotherapie, Entspannungsübungen und Yoga helfen. Aber sie helfen in diesem Falle nicht ursächlich, sondern begleitend. 3) Man wird dem Betroffenen nur mit dem richtigen Erklärungsmodell gerecht Wenn man einen durch langes Rauchen ehrlich erworbenen Herzinfarkt, ein bakteriell verursachtes Magenulcus oder eine erbliche Neurodermitis hat, dann weiß jeder Nachbar, jeder Angehörige und jeder Therapeut sofort genau, dass das natürlich eine “massive psychische Komponente“ hat. Wenn der Betroffene dann etwas verlegen guckt und behauptet, er habe gar nicht so viel Streß, es gehe ihm psychisch eigentlich ganz gut, dann wird er mit einer Mischung aus Besserwissen, Mitleid und Überführung angeguckt und die Replik lautet in 100 Prozent der Fälle: „Das willst Du jetzt natürlich nicht wahrhaben, aber Verdrängung hilft hier gar nichts. Frag dich doch mal, ob Du nicht doch irgendwo Streß hast.“ Ja natürlich hat jeder immer auch Streß. Aber das ist ja nicht zwingend die Ursache für seine Segelohren oder alle anderen Erkrankungen. Und falsche Erklärungen werden dem Betroffenen einfach nicht gerecht, so schön sie für den Erklärenden auch klingen mögen.
Gebt dem Körper, was des Körpers ist und der Psyche, was der Psyche ist
Vorschlag zur Güte: 1) Manche Erkrankungen haben psychische Ursachen. In diesen Fällen kann Psychotherapie helfen. 2) Manche Erkrankungen haben körperliche Ursachen (selbst wenn ich sie im CT nicht sehen kann). Erkrankungen mit körperlichen Ursachen können psychische Effekte auslösen, die bedeutend sein können. Auch in diesen Fällen kann Psychotherapie helfen. 3) Das heißt aber im Umkehrschluss gerade eben nicht, dass alle diese Krankheiten psychogen verursacht sind. Können wir uns darauf einigen?
Lieber Jan,
Danke für diesen Beitrag. Und um sofort auf deine Fragen zu antworten: Nein, ich finde vielmehr wir sollten Menschen als ganzheitliche Wesen betrachten in denen Körper und Psyche zusammen gehören. Und wir nicht versuchen das eine gegen das andere auszuspielen. Das Wort Multikausalität schießt mir da auch gleich in den Kopf.
Es stimmt ja alles, was Du schreibst nur die Schlussfolgerung will mir nicht in den Kopf. Ja, Stress ist nicht alleiniger Faktor aller psychischen Probleme, ja körperliche Erkrankungen haben körperliche und psychische Ursachen und psychische Krankheiten haben körperliche, psychische und Ursachen in Umwelt. Alles richtig. Aber das heißt doch, dass wir alles zusammen betrachten sollten und nicht die Dinge voneinander trennen. Sonst hast Du weiterhin das gleiche Problem, womit Du anfängst. Nämlich, dass ein Teil behauptet für alles andere verantwortlich zu sein.
Das wäre mein Vorschlag zur Güte. Auch gerne weiter in einem Podcast 😉
Alles Liebe,
Sandro
Was hat Dich denn gestesst?
Der Stress – Eu- wie Distress – ist auch nur eine gute „Ausrede“.
Verantwortlich ist doch in erster Linie, wie wir damit und uns selbst umgehen. Das wirkt sich letzendlich auf Körper und Seele aus.
Von daher würde ich mal sagen, jeder kann im Vorfeld entscheiden, wann er eventuell mal welchen Arzt aufsuchen muss oder will.
Ich schließe mich Sandro an und antworte mit „Nein“. Nicht, weil ich falsch finde, was Du schreibst, sondern weil erstens die Unterscheidung (psychisch vs. körperlich) oft gar nicht so einfach ist (es gibt z.B. auch noch „funktionelle Beschwerden“) und zweitens weil mir etwas sehr Wichtiges fehlt. Nämlich, dass psychische Probleme auch körperliche Beschwerden auslösen können oder, wie es Sandro schreibt, weil die Wechselwirkungen meiner Meinung nach wesentlich stärker sind, als das gemeinhin gedacht wird. Nun arbeite ich in einer großen psychosomatischen Klinik, wo das vielleicht deutlicher oder öfter zu sehen ist als in der Nachbarschaft.
Natürlich macht es wenig Sinn, „Stress“ für alles verantwortlich zu machen, weil das viel zu undifferenziert ist. Aber ist – als Beispiel – durch die Entdeckung von Helicobacter das Magen-Ulcus ausreichend erklärt? In der Wikipedia habe ich gerade eine schöne Erläuterung zu „Die drei „C“ der Ätiologie“ gefunden, welche Causa, Contributio und Correlatio unterscheidet. Warum bekommt einer eine Infektion mit Helicobacter und der andere nicht? Gut, vielleicht ist es einfach Pech, so wie einer Krebs bekommt. Aber ist die Welt und der Mensch nicht meist komplexer? Geht es nicht – gerade in der Psychosomatik – um Dispositionen, die erst zusammen mit Auslösern („Stress“, Helicobacter?) zu Symptomen führen?
Ich meine aus Deinem Text herauszulesen, dass Du findest, psychische Ursachen oder „Stress“ werden zu oft für alles mögliche verantwortlich gemacht. Ich erlebe es häufiger andersherum, was aber durch meine Patientenselektion bedingt sein kann. Und gerade die „Grauzone“ zwischen Körper und Psyche – wenn wir denn diese Trennung beibehalten wollen – macht für mich das Spannende an der Psychosomatik aus. Ängste exponieren kann doch jeder, aber eine „somatoforme Störung“ (was auch immer das ist) behandeln, das ist nachwie vor eine Herausforderung 🙂
Viele Grüße
Daniel
DANKE! Die Erklärung „Das ist alles psychisch“ bedeutet doch in der ärztlichen Praxis nix anderes als: „Jetzt weiß ich auch nicht mehr weiter.“ Der Patient mit – wahlweise- Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, juckendem Hautaussschlag, wird ohne weitere Behanbdlung und völlig ratlos nach Hause geschickt. „Psychisch“ darf immer nur die letzte Diagnose sein , nach dem alles andere abgeklärt wurde. Im Umkehrschluss bei Psychiatern dann auch neurologische Erkrankungen, Mangelerscheinungen und hormonelle Problematiken.