Brauchen adipöse Patienten höhere Dosierungen der Psychopharmaka als normalgewichtige?

Die Frage stellt sich ja. Viele denken folgendermaßen:

Psychopharmaka sind immer lipophil (fettlöslich), damit sie im Gehirn ankommen und wirken können. Also verteilen sie sich auch im Körperfett. Ein sehr übergewichtiger Patient mit 100 Kg Körperfett braucht daher eine höhere Dosis eines Psychopharmakons als ein sehr schlanker Patient mit nur 10 Kg Körperfett.“

Klingt plausibel. Aber stimmt es auch?

Die Wahrheit über das Verteilungsvolumen und warum es uns hier nicht interessiert

Das pharmakologische Konstrukt des Verteilungsvolumens ist wirklich ein komisches Biest. Wenn man sich vornimmt, jemanden durch die Facharztprüfung fallen zu lassen, müsste man eigentlich nur mal nach dem Verteilungsvolumen fragen, dann würden wohl die meisten Kandidaten gleich freiwillig den Prüfungsraum verlassen. Übrigens auf Nachfragen auch die meisten Prüfer…

Die Wikipedia erklärt das Verteilungsvolumen hier. Auf YouTube findet man kein deutschsprachiges Erklärungsvideo, unten den englischsprachigen gefällt mir dieses hier ganz gut. Tatsächlich verteilen sich lipophile Medikamente auch im Körperfett.

Man kennt das vom Cannabis. Tage und teilweise Wochen nach dem glaubhaft letzten THC-Konsum fallen im Drogenscreening wieder Cannabinoide auf, und die Erklärung kann wirklich sein, dass alte, ranzige Cannabinoide vom Trip vor einem Monat, die sich im Körperfett gelöst hatten, aus welchem Grund auch immer zurück ins Blut gewechselt haben.

Ich möchte die Frage, was mit einem lipophilen Wirkstoff nach Einnahme passiert, mal sehr vereinfacht am Beispiel des THCs erklären:

Bolle baut sich regelmäßig drei Joints pro Tag. Wir verfolgen den Weg des THC´s vom Coffee-Shop bis zum Wirkspiegel im Gehirn…

  • Unser hypothetischer Kiffer Bolle kauft sich zunächst mal in einem Coffee-Shop in Amsterdam Haschisch. Der Preis für Haschisch liegt je nach Sorte und Reinheit um die 10 € pro Gramm Haschisch (Quelle hier). Im Laden erhält er zwei Tütchen mit je 0,5 g Haschisch. Er nimmt den Inhalt eines 0,5 g Tütchens und teilt es noch einmal in zwei Hälften zu je 0,25 g Haschisch.
  • Mit diesen 0,25 g Haschisch baut sich Bolle einen Joint.
  • Haschisch hat einen THC-Gehalt von um die 10 %. Das bedeutet, dass 0,25 g Haschisch etwa 0,025 g THC enthalten. 0,025 g sind 25 mg.
  • In Bolle Joint sind nun also 25 mg THC. Er zündet ihn an, um ihn zu rauchen. In den Rauch gehen so etwa 50 % des THC´s über. Macht etwa 12 mg THC im Rauch.
  • Bolle inhaliert mit mehreren tiefen Zügen den Rauch. Bei Inhalation gehen etwa 20 % des THCs ins Blut über. Macht also etwa 3 mg THC im Blut. Nun ist THC dermaßen lipophil, dass es sich praktisch nicht in Wasser löst, also auch nicht in der wässrigen Fraktion des Blutplasmas. Im Blut bindet es vielmehr an einige Plasmaproteine, insbesondere Lipoproteine.
  • Der Plasmaspiegel des THCs steigt in den ersten Minuten nach der Inhalation schnell an. In Experimenten misst man typischerweise Blutspiegel um die 100-150 µg THC pro Liter Blutplasma.
  • Dann beginnen zwei Prozesse, die beide zu einer schnellen Reduktion des Blutspiegels führen.
    1. Erstens wird THC zu verschiedenen Metaboliten abgebaut. Im Wesentlichen wird es in der Leber in andere lipophile Substanzen metabolisiert. Das THC selbst sowie seine lipophilen Metabolite werden über mehrere Stunden bis Tage über die Faeces und den Urin ausgeschieden.
    2. Zweitens verteilt sich das lipophile THC in andere Kompartimente als nur das Blutplasma, namentlich ins Fettgewebe sowie andere fettreiche Gewebe wie das Gehirn, den Herzmuskel, andere Muskeln und andere Organe.
  • Es baut sich dann für eine kurze Zeit ein Gleichgewicht auf zwischen der Konzentration im Blutplasma, der Konzentration im Gehirn insgesamt, der Konzentration im synaptischen Spalt, im Fettgewebe und überall sonst.
  • Wenn Bolle keinen zweiten Joint raucht, nehmen alle Konzentrationen im weiteren langsam wieder ab.
  • Nehmen wir nun an, dass Bolle jeden Tag morgens, mittags und abends einen Joint raucht. Dadurch bringt er die THC-Konzentrationen in den verschiedenen Geweben irgendwann in einen steady-state. Zwar muss er bei den ersten Gaben einige Milligramm THC ins Fettgewebe abgeben, bevor sich der steady-state ausbilden kann. Aber wenn der erst einmal erreicht ist, dann ist es egal, ob 10 Kg Körperfett mit THC aufgesättigt sind oder 100 Kg Körperfett.
  • Der Abbau erfolgt ja nicht durch die Fettzellen, sondern nach wie vor in der Leber und zu einem kleineren Teil durch die Niere. Und die Abbau- und Eliminationsgeschwindigkeit hängen nicht mit der Menge des Körperfettes zusammen, sondern mit der enzymatischen Ausstattung des Körpers, namentlich mit der Menge der CYP-p450 Enzyme.

2017_05_31 Steady_state_schematic

Für den steady-state ist es egal, wie groß das Gefäß ist !

(Bild: steady-state Von Indoor-Fanatiker – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18658473)

Was haben wir nun bezüglich der Dosierungen für Patienten mit unterschiedlichem Körpergewicht gelernt?

Bei einem Medikament, dass regelmäßig gegeben wird, kann es bei einem adipösen Patienten etwas länger dauern, bis er den steady-state erreicht hat, weil er mehr vom (lipophilen) Wirkstoff braucht, bis auch das Körperfett mit dem Wirkstoff abgesättigt ist. Üblicherweise dauert es so etwa fünf Halbwertszeiten, also oft so etwa drei Tage, bis der steady-state erreicht ist.

Aber danach spielt die Menge des Körperfettes keine Rolle mehr für das Verhältnis von Dosis und Blutspiegel. Dieses Verhältnis wird bestimmt von den ganz normalen Stoffwechselwegen des Abbaus und der Ausscheidung von Medikamenten, also den metabolisierenden und eliminierenden Prozessen.

Merke: Adipösen Patienten brauchen keine höheren Dosierungen der Psychopharmaka, um auf die gleichen Blutspiegel zu kommen. Sie brauchen allenfalls etwas länger, bis sie den steady-state erreicht haben.

Eure Rückmeldung zu dieser Überlegung

Das war jetzt ein recht komplizierter Gedankengang, und er ist an einigen Stellen vereinfachend. Ich denke jedoch, dass er insgesamt richtig ist und mit der falschen Vorstellung aufräumt, schwerere Patienten bräuchten höhere Dosierungen und leichtere Patienten bräuchten niedrigere Dosierungen. War die Erklärung nachvollziehbar? Ist sie irgendwo doch zu vereinfacht oder gibt es einen Denkfehler in dieser Erklärung, der zu einem anderen Ergebnis führt? Schreibt bitte eure Gedanken und Anregungen in die Kommentare!

3 Gedanken zu “Brauchen adipöse Patienten höhere Dosierungen der Psychopharmaka als normalgewichtige?

  1. Kivi 31. Mai 2017 / 19:36

    Vielen Dank für die wunderbare Erklärung. Sehr anschaulich und gut verständlich – finde ich. Zudem sehr praxisrelevant. Ist mein Senf dazu jedoch wirklich gefragt, finde ich die Berechnungen zur Menge des Konsums überflüssig. Im Prinzip würde zur Veranschaulichung (und dann muss der geneigte Leser weniger mitrechnen) der Teil ab dem 6. Gedankenstrich reichen.
    „Der Plasmaspiegel des THCs steigt in den ersten Minuten nach der Inhalation schnell an (…) Blutspiegel um die 100-150…..“
    Andererseits fand ich die Berechnungen dessen, wenn auch nicht zum Verständnis des Sachverhaltes mit dem Steady-state unbedingt notwendig, sehr interessant. Wie ineffizient, dass nur 3 von 25 mg ankommen. Variiert das je nach Modus des Konsum(z.B. Joint vs. „Bong“) und wieviel kommt im Vergleich bei der oralen Aufnahme an?

  2. mesugarcube 1. Juni 2017 / 10:47

    Wieso gibt es dann Medikamente, wie Atomoxetin, deren Dosis nach Körpergewicht berechnet wird?

    • psychiatrietogo 1. Juni 2017 / 13:25

      Bei Einmalgaben, wie i.v.-Kurznarkosen, kommt es oft auf das Körpergewicht an. Auch Zytostatika werden nach Körpergerwicht (oder genauer nach Körperoberfläche) berechnet. Im übrigen ist die Berechnung nach Körpergewicht in der Kinder- und Säuglingsbehandlung natürlich verbreitet.

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