Neue Medikamente ansetzen erwartet man ja von einem Arzt. Meine Aufgabe ist es aber sehr häufig auch, die Medikamentenliste von Patient:innen zu vereinfachen und zu reduzieren. Manche kommen mit so vielen unterschiedlichen Medikamenten zur Aufnahme, dass man völlig den Überblick verliert. Und dann tue ich das, was ich auch sonst so für sinnvoll halte: Alles so weit zu vereinfachen, dass jedes einzelne Teil wieder Sinn macht. Hier habe ich mal einige der Überlegungen zusammen getragen, die in mir vorgehen, wenn ich eine komplizierte Medikation im Laufe einiger Tage oder Wochen reduziere. Bei all diesen Daumenregeln gilt: Wenn du eine Ausnahme vor dir sitzen hast, wirst du sie erkennen. Dann wendest Du die Regel natürlich nicht an.
Nun zu den meinen Daumenregeln:
- Wenn der Patient noch keine Medikation hätte, welche würde ich dann für sinnvoll erachten? Hier hilft es, sich die Diagnose klar zu machen, den bisherigen Krankheitsverlauf und die aktuelle Krankheitssymptomatik. Dann belasse ich das, was ich selbst auch gegeben hätte, und baue den ganzen Rest ab.
- Wenn der Patient mehr als acht Psychopharmaka hat, reduziere ich die Hälfte der Psychopharmaka. Klingt jetzt etwas radikal, klappt aber praktisch immer. Niemand sollte mehr als 4 verschiedene Sorten Psychopharmaka bekommen.
- Drei oder mehr Neuroleptika: Die meisten Patienten sollte man mit einem Neuroleptikum behandeln, einige brauchen zwei verschiedene Neuroleptika in Kombination. Kaum ein Patient braucht drei oder mehr Neuroleptika in Kombination. Wer drei oder mehr Neuroleptika hat, bei dem reduziere ich auf zwei.
- Welche Neuroleptika werden kombiniert? Wenn zwei Neuroleptika kombiniert werden, dann sollten sie grundlegend unterschiedliche Rezeptorbindungsprofile haben, sonst macht die Kombination keinen Sinn. Schaut euch diesen post an, dann wisst ihr, was man kombinieren kann und was nicht. Es macht zum Beispiel keinen Sinn, Haloperidol und Risperidon zu kombinieren, weil sie sich zu ähnlich sind. Auch macht es keinen Sinn, Olanzapin und Quetiapin zu kombinieren, ebenfalls, weil sie sich zu ähnlich sind.
- Depot-Neuroleptika: Wenn ein Patient schon ein Depot-Neuroleptikum bekommt, sollte er langfristig nicht auch noch ein Neuroleptikum oral erhalten. Übergangsweise schon, langfristig nicht. Das ist doch der Sinn eines Depot-Neuroleptikums, oder. Wenn der Patient ohnehin Tabletten einnimmt, dann kann ich doch das (meist teure) Depot-Neuroleptikum auch auf Tabletten umstellen, oder? Oder ich bleibe bei einer Depot-Mono-Medikation. Aber beides? Nein.
- Antidepressiva: Für die meisten Patienten sollte ein Antidepressivum ausreichen. Es gibt Fälle, in denen man zur Verbesserung des Schlafes zusätzlich zu einem SSRI oder SNRI morgens noch ein weiteres Antidepressivum abends gibt, etwa Mirtazapin oder Agomelatin. Aber es gibt fast keinen Grund, mehrere SSRI und SNRI zu kombinieren.
- Benzodiazepine: Ein Benzodiazepin reicht aus. Man braucht nicht verschiedene Sorten für Angstlinderung und Schlafförderung. Wenn man ein Benzo gibt, entfaltet es alle angestrebten Wirkungen. Im Übrigen soll man Benzos nur vorübergehend geben.
- Keine Sedierung als Dauermedikation: Ja, phasenweise brauchen bestimmte Patienten eine sedierende Medikation fest angesetzt, vor allem im Krankenhaus. Aber so bald wie möglich sollte man Sedativa nur noch bei Bedarf geben. Das gilt sowohl für Benzos als auch für niederpotente Neuroleptika. Wie bei jeder Regel gibt es auch hier Ausnahmen. Wenn dir eine begegnet, erkennst Du sie. Alle anderen: Sedativa auf Bedarfsgabe umstellen.
- Langfristige Opiatgabe: Opiate lindern akute Schmerzen ausgezeichnet. Gegen chronische Schmerzen sind sie aber in vielen, nicht in allen Fällen, weitgehend machtlos. Wenn Opiate länger als zwei Monate gegeben werden, lohnt es sich, einen Versuch zu machen, sie langsam zu reduzieren. Dann treten Entzugserscheinungen auf. Diese darf man nicht verwechseln mit Schmerzen, die den Bedarf an Opiaten anzeigen. Bei erstaunlich vielen Patienten kann man die Opiate ganz absetzen, ohne dass die Schmerzen irgendwie zunehmen. Aber die erheblichen Nebenwirkungen, ganz zu schweigen von der Abhängigkeit, ist man dann los.
- Nahrungsergänzungsmittel. Es gibt eine Patientengruppe, deren zweiseitige Medikamentenliste mit Magnesium, Zink und vier verschiedenen Multivitamintabletten anfängt. Das sind oft Menschen, die besonders stark daran glauben, dass gesundheitliches Wohlbefinden durch Tabletten entsteht. Das ist aber falsch. Gesundes Essen, Bewegung und eine besonnene Lebensführung sind viel wichtiger. Wer sich in Deutschland halbwegs vernünftig ernährt, braucht weder Nahrungsergänzungsmittel noch Vitamintabletten. Ich setze die alle ab und erkläre dem Patienten, dass er sie von mir aus selbst dazu nehmen kann, sie würden sich mit den von mir verordneten Medikamenten problemlos vertragen. Aber ich verordne sie nicht selbst. So erwecke ich nicht den falschen Eindruck, ich sähe hierfür eine Indikation.
- Bei jedem Medikament die Indikation kritisch prüfen. Da gibt es so einige Klassiker:
- „Wogegen nehmen Sie das Quetiapin?“ „Schlafstörungen“. Absetzen. Quetiapin ist kein Schlafmittel, das ist pharmakologisch mit Kanonen auf Spatzen geschossen.
- „Sie bekommen hier Pantoprazol. Wann hatten Sie denn zuletzt Magenschmerzen?“ „Vor zwei Jahren, als mir das in der Reha angesetzt worden ist. Ich hatte noch nie ein Magengeschwür.“ Absetzen.
- „Als drölftes Medikament steht hier noch Lamotrigin, wogegen darf das denn helfen?“ „Weiß ich nicht“. Mit dem ambulant behandelnden Psychiater telefonieren, wenn der auch keine Idee hat, was das soll: Absetzen.
- Medikamente in sehr niedriger Dosierung: Kann man auch zumeist absetzen. Vor allem, wenn sie als eines von vielen Medikamenten gegeben werden. Im Ernst: Wenn jemand schon ein Antidepressivum, ein Neuroleptikum und ein Phasenprophylaktikum, jeweils in therapeutischen Dosierungen, bekommt, was soll dann die Verordnung von Promethazin 15-0-15-0 mg bringen? Absetzen.
Das wäre mal mein Vorschlag zu einer medikamentösen Fastenzeit. Sollte man aber nicht nur Aschermittwoch, sondern das ganze Jahr über machen.
Ein paar Erfahrungen aus der Apotheke:
Die bemerkenswerteste Antidepressiva-Kombination, die ich einmal auf Rezept für einen >65-jährigen zu lesen bekam, war Venlafaxin 75mg, Escitalopram 10mg, Doxepin 100mg, Trimipramin 100mg, dazu Lorazepam 1mg. War aber von der Klink eingestellt, wie der weiterverordnende Hausarzt mir sagte.
Die Kombination Milnacipran+Tianeptin fand ich auch recht ungewöhnlich.
Quetiapin scheint recht breit in niedrigen Dosierungen eingesetzt zu werden (bei Unruhe- und Angstzuständen, Schlafstörungen). Es mehren sich auch wieder die Verordungen von Trazodon.
Fluspirilen 1,5 mg, welches früher bei uns gar nicht so selten von Allgemeinmedizinern verordnet wurde, kommt hingegen fast nicht mehr vor.
Wenn das doch mal nur ein paar mehr Ärzte auch ausführen würden… Wirklich eine tolle Handlungsempfehlung!
Einen kleinen Hinweis habe ich jedoch zu Punkt 10: Das ein oder andere Calcium- oder Magnesiumpräparat kann schon mit Schilddrüsenhormonen oder Antibiotika unwirksame Komplexe eingehen und sollte nicht als komplett unkritisch gesehen werden.
Zu 1.
Da fehlt noch der Gedankengang, wie die bisherige Medikation sich womöglich auf die aktuelle Symptomatik auswirkt. Das sollte unbedingt mitbedacht werden (ist logisch, daß das bei einem Gedankengang „was wäre, wenn der Patient nichts nähme“ eigentlich nicht geht, deswegen finde ich das auch eher einen gefährlichen Gedankengang).
Zu 2. und 3.
Klingt gut.
Zu 3., 4. und 5.
Warum kann man diese Punkte nicht, wie auch bei 6. oder 7. in einem zusammenfassen?
Zu 6.
Es gibt mehr Antidepressiva als SSRI oder SNRI, auch wenn diese aktuell am häufigsten genutzt werden. Da „fehlt“ irgendwie sowas wie bei den Neuroleptika (dort würde ich kürzen, hier würde ich ein bißchen ausführlicher werden).
Zu 7.
„Sollte es alle angestrebten Wirkungen entfalten“. Wie lange geht man auf die Suche nach einem „passenden“ nebenswirkungsarmen Benzodiazepin?
Zu 8.
Klingt ok.
Zu 9.
Hm, also schmerztherapeutisch gesehen sollte der chronische Schmerz so gut es geht ausgeschaltet werden.
Hier im Blog wird davon ausgegangen, daß es einen definierten Anfangs-Schmerzzustand trotz Opiatgabe gibt. Dieser verändert sich nicht, wenn man das Opiat absetzt (von Ausnahmen abgesehen).
Wenn es einen definierten Anfangsschmerzzustand gibt, dann ist der Patient doch schmerztherapeutisch nicht gut eingestellt (womit auch immer)? Da müßte man sich doch weniger Gedanken um das Absetzen des Opiates machen als um die Linderung des Schmerzzustandes.
In Ihrer Beschreibung bleibt dieser am Ende genau gleich.
Hier tun mir Ihre Patienten leid. Ok, sie haben die Nebenwirkungen des Opiates nicht mehr, dafür aber auch keine andere Lösung für ihren Schmerz, der in der Regel zermürbend und kräftezehrend ist. Wie gut können diese Patienten sich dann wohl seelisch stabilisieren?
Zu 10.
Sehe ich ähnlich wie Apothekerin21.
Außerdem gibt es durchaus Nahrungsergänzungsmittel, die auf die Psyche wirken.
Auch beachten sollte man, daß gerade bei Menschen, die Mangelernährungen haben (nicht nur Essstörungspatienten, sondern auch ältere Menschen, Menschen mit Aufnahmestörungen im Magen-Darm-Trakt und natürlich auch solche, die sich nach recht strengen Regeln ernähren (der oftbenutzte Veganer, der sich mit seiner Ernährungszusammensetzung nicht ausreichend auseinandergesetzt hat) sind hier zu beachten, wie man sieht, doch eine ganze Menge, so daß hier vielleicht nicht mehr von Ausnahmen die Rede sein kann), sind bestimmte Nahrungsergänzungsmittel für die Psyche überlebensnotwendig.
Und das ein oder andere Psychopharmakon kann durch ein nebenwirkungsarmes oder sogar -freies Nahrungsergänzungsmittel ersetzt werden.
Zu 11.
„Wogegen nehmen Sie xy?“ „Gegen xyz.“ „Das habe ich aber noch nie gehört.“ „Da gibt es aber ein paar wenige Studien dazu, außerdem hilft es bei mir nachweislich, von mir aus können wir es auch gerne mal wieder absetzen, weil Sie mir nicht glauben. Das haben schon x Psychiater vor Ihnen gemacht, es endete immer mit yz.“ „Hm, eigentlich kenne ich das Medikament garnicht.“ „Ja, das kennt fast kein Psychiater (obwohl es zu den Psychopharmaka gehörtdenk).“ „Dann lassen wir das lieber so stehen.“
„Wogegen nehmen Sie xy?“ „Gegen xyz.“ „Dafür ist das aber garnicht zugelassen, waren Sie jemals yz?“ „Nein, ich nehme es aufgrund von Studien und meiner gelinderten Symptomatik, die zeigt, daß es auch gegen xyz hilft, ich kann Ihnen sogar den Wirkmechanismus erklären, wenn Sie möchten.“ (Betretenes Schweigen) „Dann lassen wir das so stehen.“
„Wogegen nehmen Sie xy?“ „Gegen xyz.“ „Also dafür nehmen wir hier nur a, b oder c, etwas anderes haben und brauchen wir auch garnicht auf Station.“ „Gut, also a und b wirken bei mir nachweislich paradox und auf c reagiere ich mit lebensgefährlichen Nebenwirkungen.“ (Schweigen) Im besten Falle: „Haben Sie ein paar dieser Tabletten mit dabei bis das Medikament von uns bestellt und an uns geliefert wurde?“ Im suboptimalen Falle: „Lassen Sie sich vom niedergelassenen Arzt ausreichend Tabletten verschreiben, dann haben Sie sie bei sich auf dem Zimmer und nehmen sie eigenverantwortlich.“ Im schlechtesten Falle: „Nein, wir probieren a, b oder c (und es passiert dann das von mir vorhergesagte und die Ärzte wundern sich (seufzwie oft bin ich deshalb schon auf Intensiv gelandet?)).“
„Warum nehmen Sie x mg von yz? Das ist doch retardiert, das darf man nicht teilen.“ „Stimmt, das steht in jedem Beipackzettel. Aber die volle Dosis ist zu hoch, eine kleinere Dosierung gibt es nicht, also habe ich es schlicht ausprobiert, nachdem es ganz ohne nicht geklappt hat (Absetzerscheinungen wurden miteinbedacht). Und, es funktioniert.“ „Ja, hm, seltsam, aber, wenn es funktioniert, aber, das kann ich so nicht auf dem Anweisungszettel schreiben.“ (Ahhhhh)
Zu 12.
Und die Menschen, die auf Niedrigstdosen reagieren? Ja, es gibt solche, zahlenmäßig wohl nichtmals als Ausnahmen zu betrachten.
Da wird dann mal schnell was abgesetzt, weil es in dieser niedirgen Dosierung ja garnichts bringen kann. Und dann wird sich gewundert, wenn sich der Zustand verschlechtert.
Oder andere Variante, es wird auf Normaldosis erhöht und man wundert sich dann über die oft haarsträubenden Nebenwirkungen, die die Wirkung vollkommen in den Hintergrund treten lassen.
Warum sich unbedingt an Leitfäden festhalten wollen, wenn der Patient sich selber und seine Reaktionen auf die Menge eines Medikamentes kennt?
Warum dem Patienten nicht glauben, daß auch Niedrigstdosierungen eine Wirkung haben können?
Es kommt nämlich u.a. auf den individuellen Stoffwechsel des Patienten an.
Inzwischen suche ich mir Psychiater, die mit 11. und 12. flexibel sind, die 10. durchaus als Option in ihr Behandlungssprektrum miteinbeziehen (und dafür auch mühsam nach Studien suchen und mir auch Nebenwirkungen der Nahrungsergänzungsmittel mitteilen, wenn es denn welche gibt), die mich niemals mit 9. im Regen stehen lassen würden, sondern einen Schmerztherapeuten mit an Bord holen würden, und Insgesamt vorsichtig mit dem Verordnen von Psychopharmaka sind und mir und meinem Gefühl zutrauen, daß ich grundsätzlich weiß, was mir gut tut und was nicht (auch wenn ich manchesmal selbstschädigend handeln will, aber dann gebe ich das auch zu, wenn ich gefragt werde).
So komme ich aktuell auf 1 Psychopharmakon, das ich bedarfsweise nehme, alles andere sind Medikamente gegen somatische Beschwerden (2 niedrigstdosiert) oder Nahrungsergänzungsmittel (2, eines, das psychisch hilft (durch Studien nachgewiesen) (ich benötige dadurch deutlich weniger Bedarfsmedikation), und eines, das die geleerten Speicher wieder auffüllen soll und ich dadurch wieder weniger psychische und somatische Probleme haben soll (auch wieder durch Studien nachgewiesen, es hat aber in hoher Dosierung Nebenwirkungen, deswegen werde ich es nur vorsichtig nutzen)).
Damit lebe ich recht stabil nun schon seit ein paar Jahren (letzter stationärer Aufenthalt war vor 7 Jahren, ich brauchte aber einige Zeit, bis ich mir selber mehr traute als „den Ärzten“ und die Psychopharmaka langsam ausschlich, zuerst nicht gerne gesehen von dem damaligen ambulanten Psychiater, aber geduldet (muß er ja), und dann verwundert.).
Ich bin selbst Psychiaterin mit einigen Jahren Berufserfahrung und bin zufällig auf diesen Blog gestoßen. Erstmal ein großes Lob hierzu. Nahezu alles in diesem Beitrag würde ich so auch unterschreiben. Nur bei Quetiapin bei Schlafstörungen bin ich anderer Meinung. Quetiapin ist kein Medikament, das man bei Schlafstörungen einsetzen sollte, die unabhängig von einer psychischen Erkrankung auftreten. Jedoch gerade bei einer Depression ist es hierfür sehr gut geeignet, da es das Gedankenkreisen, das viele depressive Patienten vom Schlafen abhält, bessert.