Impressionen vom LVR-Symposium 2019 in Köln „Psychiatrie als therapeutische Disziplin“

Alle zwei Jahre veranstalten die LVR-Kliniken und das LVR-Institut für Versorgungsforschung ein state-of-the-art Symposium zu einem ausgewählten Thema. Heute und morgen lautet das Thema „Psychiatrie als therapeutische Disziplin” Die Vorträge sind gut zusammengestellt. Am Ende des heutigen Tages gab es eine Plenardiskussion (im ersten Foto zu sehen), in der ein Betroffener, eine Angehörige und einige Psychiater:innen den Nutzen und die Nebenwirkungen psychiatrischer Behandlungen besprachen. Gut moderiert vom WDR-Moderator Ralph Erdenberger und tatsächlich aufschlußreich. Was ich heute gehört habe? Ich stelle jetzt mal nicht alle interessanten Gedanken hier zusammen, aber einige unsortierte Schlaglichter, die mir in Erinnerung geblieben sind:

  • Es sterben mehr Patienten an einer Clozapin-induzierten Obstipation, als an einer Clozapin-induzierten Agranulozytose.
  • In der nächsten, aktuell fast fertigen Version der Leitlinie Schizophrenie wird nicht mehr davon gesprochen, einem Patienten in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Medikament zu verordnen, sonder immer geschrieben, dass man es ihm anbieten kann. Das ist das korrekte wording. Nicht der Arzt entscheidet, was der Patient nimmt, sondern der Patient. Die Rolle des Arztes ist es, sie / ihn zu informieren und ihm dann eine oder mehrere Therapieoptionen anzubieten. Gut so.
  • Es bleibt dabei: Die Evidenz für die Wirksamkeit von Antidepressiva bei leichten Depressionen ist nicht vorhanden, es gibt erst Evidenz ab mittleren Schweregraden der Depression. Die allerdings gibt es und dazu kann man auch stehen. Die neue Metaanalyse von Cipriani 2018, die ihr hier im Open Access kostenlos laden könnt, ist wirklich eindeutig und zeigt, dass die Wirksamkeitsnachweise antidepressiver Medikamente bei mittelschweren und schweren depressiven Episoden auf einer robusten Datengrundlage basieren. Cipriani et al. (2018). Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. The Lancet, 391(10128), 1357–1366. http://doi.org/10.1016/S0140-6736(17)32802-7
  • Es gibt Forschungen, die untersuchen, ob eine sehr lange Gabe von SSRI zu einer Veränderung des Hirnstoffwechselgleichgewichts führen, die nach dem Absetzen von Antidepressiva die Anfälligkeit des Gehirns für eine erneute depressive Episode erhöht. Die aktuellen Daten dazu sind aber sehr spärlich, die untersuchten Gruppen super klein, eine Aussage dazu ist noch nicht möglich.
  • Wenn man eine Studie zur Wirksamkeit von Antidepressiva mit einer „wash-out-Phase“ beginnt, dann entzieht man den antidepressiv vorbehandelten Patienten das Medikament. Es entstehen Absetzsymptome, die durch die Gabe des Studien-Antidepressivums abklingen, nicht aber unter Placebo. Das ist ein systematischer Fehler zugunsten der Antidepressiven Studienmedikation.

Morgen beginnt es mit einem Vortrag zu den Nebenwirkungen von Psychotherapie, das ist eines meiner Lieblingsthemen, ich freue mich schon darauf!

3 Gedanken zu “Impressionen vom LVR-Symposium 2019 in Köln „Psychiatrie als therapeutische Disziplin“

  1. Iris Heffmann 1. Februar 2019 / 09:55

    Moin Dr. Dreher!

    Bei der Cipriani Studie sollte man die Einschränkungen nicht unterschlagen. 🙂

    Selbst der Autor erklärt:
    Last night, lead researcher Dr Andrea Cipriani admitted there were limitations to the Oxford study and that more research was needed to ensure patients were being effectively matched to treatments. Potential risks and side-effects were not part of this review, he added.
    http://www.dailymail.co.uk/health/article-5424795/amp/Study-says-GPs-hand-antidepressants.html?__twitter_impression=true

    Hier noch ein Zitat von Cipriani:
    „Antidepressiva sind wirksame Medikamente“, sagt Andrea Cipriani von der University of Oxford, Hauptautor der Studie. „Aber leider spricht etwa ein Drittel der Patienten mit Depression nicht auf die Mittel an.“ Und weil ihr Effekt insgesamt klein bis mäßig sei, sei klar, dass man die Therapiemöglichen verbessern müsste.
    http://m.spiegel.de/gesundheit/diagnose/antidepressiva-wie-gut-wirken-medikamente-gegen-depression-a-1194880.html

    Die einbezogenen Studien umfassen maximal 12 Wochen und sagen nichts über einen Langzeitnutzen aus.

    Grüße aus Berlin! Iris Heffmann

    Weitere Artikel zur Studie:

    Zu Cipriani-Studie:

    Joanna Moncrieff, Psychiaterin: Challenging the new hype about antidepressants
    https://joannamoncrieff.com/2018/02/24/challenging-the-new-hype-about-antidepressants/

    Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e. V.
    Big Science Strikes Again – Aktuelle Studie zur Wirksamkeit von Antidepressiva
    https://www.dgvt.de/aktuell/details/article/big-science-strikes-again-a-aktuelle-studie-zur-wirksamkeit-von-antidepressiva/?tx_ttnews%5BbackPid%5D=2109&cHash=2775f9652e7471cae9e4ec24c84ae2e0

    Michael P. Hengartner, Psychologe
    “Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo”
    https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/bei-rund-90-wirken-antidepressiva-nicht-besser-als-placebo/

    Council of Evidenced-based Psychiatry, UK
    Do antidepressants work? The new research proves nothing new

    http://cepuk.org/2018/02/22/antidepressants-work-new-research-proves-nothing-new/

    • rtep07 10. März 2019 / 13:06

      Sehr geehrte Frau Iris Heffmann, Grüße von Süd-Hessen. Ich leide enorm unter Entzug von Venlafaxin und wollte sehr einfach Ihren Rat bekommen. Das ist einfach sehr unverschämt und anmassend von mir, aber ich bin absolut verzweifelt.
      Ich bitte Sie sehr, Dr. Dreher es zu veröffentlichen. Danke.

  2. Jochen 1. Februar 2019 / 14:04

    Werden irgendwo Videomitschnitte der Konferenz hochgeladen?

    „Es sterben mehr Patienten an einer Clozapin-induzierten Obstipation, als an einer Clozapin-induzierten Agranulozytose.“

    Dabei könnte es sich um ein Artefakt handeln, weil die wöchentlichen Differenzialblutbilder in den ersten mittlerweile 4 Behandlungsmonaten tödliche Ausgänge nahezu vollständig verhindern. Die Inzidenz aller Leukopenien unter Clozapin soll – gemessen am Gefahrenpotential dieser Nebenwirkung – gigantische 4-5% betragen.

    „In der nächsten, aktuell fast fertigen Version der Leitlinie Schizophrenie wird nicht mehr davon gesprochen, einem Patienten in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Medikament zu verordnen, sonder immer geschrieben, dass man es ihm anbieten kann.“

    Gegen das „Verordnen“ sprechen neben einem zweifelhaften Berufsverständnis auch die niedrigen Responseraten und die Unmöglichkeit, die ca. 15-30% der Patienten mit monoepisodischen Krankheitsverläufen zu prädizieren.

    Nur 21% der Patienten (Verum: 51%, Placebo: 30%) erleben unter einem Nicht-Clozapin-Neuroleptikum >20% Symptomreduktion und nur magere 9% (Verum: 23%, Placebo: 14%) >50% Symptomreduktion. Die Effektstärke nach Publikationsbias ist 0,38, also kann man im Mittel unter 10% Symptomreduktion erwarten.

    https://ajp.psychiatryonline.org/doi/10.1176/appi.ajp.2017.16121358

    „Die neue Metaanalyse von Cipriani 2018, die ihr hier im Open Access kostenlos laden könnt, ist wirklich eindeutig und zeigt, dass die Wirksamkeitsnachweise antidepressiver Medikamente bei mittelschweren und schweren depressiven Episoden auf einer robusten Datengrundlage basieren.“

    Die statistische Analyse ist unzweifelhaft, die ausgewerteten Daten allerdings nicht. Cipriani et al. bemängeln fast durchgängig „low quality of evidence“ und fehlendes „blinding assessment“ (ab S. 115 im Supplementary).

    Ein schwerer, methodischer Fehler der Meta-Analyse selber ist die Exklusion von Studien mit „behandlungsresistenter“ Depression. Entweder müssen auch solche Studie inkludiert werden oder aber es müssen ALLE Studien mit im Vorfeld antidepressiv behandelten Probanden unabhängig vom Behandlungserfolg ausgeschlossen werden.

    Die wesentlichen Kritikpunkte an der (vermeintlichen) Evidenz der Depressionstherapie, die ja von ganz verschiedener Seite immer wieder erhoben werden, sind:
    – Publikationsbias: Es ist leider immer noch unklar, ob dieser mittlerweile vollständig behoben werden konnte.
    – „attrition bias“: Bei Symptomminderung, aber gleichzeitiger Unverträglichkeit wird die Besserung einfach fortgeschrieben (LOCF/last observation carried forward), ohne deren Impraktikabilität zu berücksichtigen.
    – „allegiance effect“ und Interessenskonflikte durch Industriefinanzierung
    – nicht-naturalistische/repräsentative Probandenkollektive: Häufige Komorbitäten (Diabetes, „post-stroke depression“, Demenz, Angststörungen, usw.) werden ausgeschlossen.
    – Ausschluss bei Nicht-Ansprechen auf vergangene Behandlungsversuche (siehe oben): Beeinträchtigt die Repräsentativität der Studienpopulation und führt bei gleichzeitigem Einschluss ehemals responsiver Probanden zu einem systematischen Fehler.
    – „d-hacking“: Durch ausufernde Exklusionskritieren werden die Probandenkollektive künstlich homogenisiert, dadurch die Standardabweichungen deflationiert und die Effektstärken erscheinen trotz gleicher Mittelwertsdifferenzen „größer“.
    – verzerrende Studiendesigns mit „run-in“ oder „wash-out“, die künstlich die Placebo-Verum-Differenz inflationieren
    – fehlende Überprüfung des Verblindungserfolgs, deswegen Entblindung durch Nebenwirkungen möglich
    – „weiche“ Outcome-Kriterien (psychometrische Tests) anstelle „harter“ wie Drop-Out Raten, Suiziden, Teilnahme am ersten Arbeitsmarkt, usw.

    Außer dem Publikationsbias wurde leider auch von der Cipriani-Meta-Analyse keiner dieser Punkte ernsthaft adressiert.

    Abseits der statistischen Signifikanz stellen sich weiterhin die Fragen:
    Sind die (bestenfalls äußerst geringen) Effekte überhaupt klinisch bedeutsam?
    Ist die Nutzen-Kosten-Differenz positiv, also rechtfertigt die erwünschte Wirkung die Nebenwirkungen?

    Die neue Auflage des Benkert/Hippius beschreibt z.B. den Effekt von Antidepressiva als „10% Symptomreduktion oder 2-3 HAMD-­Punkte“ (S. 13).

    Meiner vorsichtigen Einschätzung nach ist der Erwartungswert des Nettonutzens im allerbesten Fall unklar, wahrscheinlich aber negativ.

    Was mich jetzt als Behandler brennend interessieren würde:
    Wie ist die Varianz der Response?
    Gibt es eine Subpopulation, die einen eindeutig positiven Nettonutzen aus Antidepressiva zieht?
    Und wenn ja, wie groß ist diese anteilig und wie erkenne ich solche Patienten?

    All diese praxisrelevanten Fragen werden von der Forschung meines Erachtens viel zu wenig berücksichtigt.

    „Es gibt Forschungen, die untersuchen, ob eine sehr lange Gabe von SSRI zu einer Veränderung des Hirnstoffwechselgleichgewichts führen, die nach dem Absetzen von Antidepressiva die Anfälligkeit des Gehirns für eine erneute depressive Episode erhöht.“

    Mir wurde letztens erzählt, dass in englischsprachigen Patientenforen die Rede von einer „tardive dysphoria“ schon seit einem knappen Jahrzehnt die Runde macht.

    Hat man dazu kontrollierte Studien oder nur epidemiologische Daten? Im letzteren Fall wäre auch die umgekehrte Trajektorie „häufige Rezidive -> lange Rezidivprophylaxe“ möglich.

    „Wenn man eine Studie zur Wirksamkeit von Antidepressiva mit einer „wash-out-Phase“ beginnt, dann entzieht man den antidepressiv vorbehandelten Patienten das Medikament.“

    Ein ganz ähnlicher methodischer Fehler, der künstlich die Placebo-Verum-Differenz inflationiert, ist der „placebo run-in“.

    Dort werden beide Studienarme anfänglich nicht auf Verum eingestellt, sondern auf Placebo, und die Spontanremitter und Placebo-Responder werden post-hoc exkludiert. Dadurch werden die Response-/Remissionsraten im späteren Placeboarm massiv gedrückt und man kann trotz minimalen Effekten des Verums beeindruckende RRs/ORs simulieren.

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