In unserer psychologievernarrten Welt gibt es den verhängnisvollen Trend, völlig normale psychologische Vorgänge mit Begriffen zu belegen, die gar nicht für das normalpsychologische Erleben gemacht sind. Ich nenne mal ein paar Beispiele:
- Jeder, der mal ein wenig ordentlich ist, wird gleich zwanghaft geschimpft.
- Statt misstrauisch zu sein, sollen alle plötzlich paranoid sein.
- Und eitel darf niemand mehr sein, das Wort ist aus dem kollektiven Wortschatz ganz verschwunden, heute sind alle eitlen Menschen gleich narzisstisch.
Mit der gleichen überschießenden Leidenschaft werden traurige Menschen, die einfach mal ganz normal und ohne Krankheitswert traurig sein wollen, in unverrückbarer Falschheit immer und von jedem depressiv genannt.
Aber das ist falsch. Denn traurig sein, heißt eben gerade nicht, dass man depressiv ist. Die Depression ist eine Krankheit, und eine depressive Stimmungslage ist ihr Kernsymptom. Wer aber keine Depression hat, der ist einfach traurig, niedergeschlagen, besorgt, verzweifelt, down, aber eben nicht depressiv. Den Begriff sollten wir ausschließlich für die Kranken reservieren.
Es wär echt schön, wenn depressiv nur traurig bedeuten würde und narzisstisch nur eitel usw. Das würde für viele Menschen das Leben viel einfacher machen, sie bräuchten nicht in der Therapie hart arbeiten, würden anderen Menschen nicht zur Last fallen und bräuchten nicht mal Medikamente nehmen.
Hi!
Ich habe es wohl mißverständlich geschrieben: Natürlich gibt es depressive, paranoide und narzisstische Symptomatiken, und die haben Krankheitswert, gehen mit Leiden einher und es bedarf harter Arbeit, dies zu lindern. Aber nicht jeder, der einmal eine bestimmte Stimmung hat, ist eben gleich schwer krank. Ich plädiere lediglich dafür, diese Begriffe angemessen zu verwenden, und nicht inflationär zu benutzen. Dann werden sie den Betroffenen eben besser gerecht.
Exakt so hab ich das verstanden. Dann hab ich wohl missverständlich geschrieben. Ich meinte eher: Es wäre schön, wenn Menschen immer gesund wären und es keine Krankheiten auf der Welt gäbe.
Drei der Hauptprobleme in der psychiatrischen Diagnostik sind, dass …
a) wir keine sensitiven und spezifischen biochemophysikalischen Nachweisverfahren haben. (Und sobald dann in seltenen Fällen doch einmal ein Hypophysenadenom im MRT auftaucht, ist der Patient dann ein Fall für die Neurochirurgie und nicht für die Psychiatrie.)
b) wir daher auf psychometrische Testverfahren angewiesen sind, denen in aller Regel eine externe Validierung fehlt.
c) die besagten, psychometrischen Tests quasi-kontinuierliche Skalenwerte ausspucken, die keine scharfe Abgrenzung zwischen „gesund“ und „krank“ ermöglichen, wodurch beispielsweise die Anzahl und die genauen Cut-Off-Werte der verschiedenen Schweregrade depressiver Episoden im Grunde recht willkürlich ausfallen.
Internistische Krankheitsbilder sind zwar auch nicht perfekt dichotom, wie z.B. die Fountaine-Stufen bei peripherem, arteriellem Verschluss zeigen. Aber zwischen stabiler Angina und einem Herzinfarkt besteht durchaus ein deutlicher „Schnitt“.
In der psychologisch-psychiatrischen Diagnostik führen Autoren dagegen für die Punktewerte desselben Testverfahrens (Hamilton Rating Scale for Depression) Schweregrade ein, die andere wiederum gar nicht kennen. Laut mancher beginnt bei 23 Punkten die „sehr schwere“ Depression, wohingegen anderen zufolge die „mittelgradige“ erst ab 25 Punkten in die „schwere“ übergeht. Sehr schön zu sehen an Tabelle 1 in folgendem Paper: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0165032710004921 (Zugang mit sci-hub.se)
Aus diesem Grund haben dichotome Outcome-Indices wie Relative Risks, Odds Ratios oder Numbers-Needed-to-Treat und Absolute Risikoreduktionen in der psychiatrischen Forschung eigentlich nichts zu suchen. Stattdessen sollten nur Effektstärken und Erwartungswerte der prozentualen Symptomreduktion angeben werden.
Zu den methodischen Fallstricken bei der Erhebung und Darstellung von Symptomausprägungen gesellt sich die Verhaltenskomponente psychischer Störungen. Weil diese sich in Veränderungen der sozialen Interaktion niederschlägt, geht sie nicht notwendig mit der klinischen Ausprägung der Symptomatik konform.
Ich habe Patienten mit schwerer Symptomatik, die ein hohes Maß an sozialer Unterstützung durch Angehörige, Freunde der Familie und Arbeitgeber erfahren und daher trotz massiver Beeinträchtigung psychosozial und selbst beruflich auf niedrigem Niveau eine fast „normale“ Lebensqualität haben. Und andererseits auch solche, die schon prämorbid teilweise ohne eigenes Hinzutun sozial isoliert waren und mit vergleichsweise eher moderater, klinischer Symptomatik einen hohen Leidensdruck verspüren und über lange Zeit arbeitsunfähig sind.