4 Gedanken zu “Hab Mut zu mehr Therapeutischer Dynamik!

  1. Jochen 6. Oktober 2019 / 12:08

    Ich würde davor warnen, psychotherapeutische Methoden mit stark intervenierendem, direktivem oder konfrontativem Charakter pauschal für wirkstärker als „sanftere“ Verfahren zu halten.

    Wenn man Patienten zu konkreten Aktivitäten animiert, dann in aller Regel zu solchen, die ihnen krankheitsbedingt besonders schwer fallen. Legt man die Latte zu hoch, führt das zwangsläufig dazu, dass einige besonders schwer erkrankte Patienten nicht mithalten können. Diejenigen Patienten, denen die Mitwirkung trotzdem gelingt, sind dann selbstverständlich (im Mittel) vergleichsweise weniger krank, als solche, die daran scheitern.

    Das muss aber nicht notwendig bedeuten, dass die Intervention ihren Zustand gebessert hat. Es wäre auch denkbar, dass die Hürden zur Teilnahme schlichtweg die besagten, schwerer erkrankten Patienten ausgedünnt haben und so nur fälschlich der Eindruck einer Zustandsänderung bei den erfolgreichen „Absolventen“ entsteht.

    Ein sehr ähnliches Phänomen existiert mit konfrontativen Verfahren, wo z.B. Patienten mit tendenziell eher feindselig-dominantem Kommunikationsverhalten einfach „dicht machen“ und Reaktanz zeigen. Feindselig-dominante Kontaktstile sind aber (neben Selbstkritik und Perfektionismus) laut der Forschung auch diejenigen patientenseitigen Variablen, die am zuverlässigsten ein Nicht-Ansprechen auf Psychotherapien prädizieren.

    Ob man durch Konfrontation eine tatsächliche Besserung erzielt oder sich nur auf elegante Weise „by proxy“ wahrscheinlicher Non-Responder entledigt hat, die nun nicht mehr den Mittelwert herunterziehen, bleibt völlig im Dunkeln.

    Beides sind große Probleme beim Studiendesign für Verhaltenstherapien und der Grund, warum so viele Wirksamkeitsstudien dazu praktisch wertlos sind: Es bleibt unklar, ob die Intervention kausal zu einer Verbesserung führt oder schlichtweg schwerer erkrankte Probanden häufiger zum „Drop-Out“ bewegt. In der englischsprachigen Literatur ist hierbei von „attrition bias“ die Rede, aber im deutschsprachigen Raum ist dieses Phänomen meinen Beobachtungen nach leider auch unter psychologischen Psychotherapeuten anscheinend nahezu unbekannt…

    • Nutzer ABC_1000 7. Oktober 2019 / 19:54

      Ganz spontan, beim ersten Reinschauen in das Video denke ich, erstmal, die Richtung des BLOG hat sich geändert, hin zu einem expertenbasierten Austausch, weg von praktischen Ratschlägen rein für die Klientel / die Patienten. Das sollte man nicht außer acht lassen. Wer sich nicht als Therapeut ansprechen lassen will (etwa weil er keiner ist, sondern Patient :-)) nutzt halt die Textteile und dabei vor allem die aus der Vergangenheit und bleibt ein zufriedener Besucher des BLOG von Herrn Dr. Dreher. So werde auch ich es halten.

      • Jochen 8. Oktober 2019 / 07:14

        Wenn ich hier kommentiere, bemühe ich mich eigentlich um einen guten Kompromiss zwischen „kurz und prägnant“ und „allgemeinverständlich“ und trotzdem schreibe ich fast immer deutlich mehr, als ich ursprünglich wollte, und leider wohl auch oft deutlich verworrener, als geplant.

        Hier ein (hoffentlich) möglichst anschauliches Beispiel für den oben beschriebenen „attrition bias“:

        Ein Verhaltenstherapeut möchte 16 depressive Patienten behandeln und beurteilt die Schwere der Krankheit auf einer Skala von 1 (leichteste) bis 10 (schwerste): 1 Patient mit 9 Punkten, 2 Patienten mit 8, 3 mit 7, 4 mit 6, 3 mit 5, 2 mit 4 und 1 Patient mit 3 Punkten.

        Der Mittelwert ist also (1×9 + 2×8 + 3×7 + 4×6 + 3×5 + 2×4 + 1×3) / 16 = 6.

        Jetzt beginnt der Therapeut, den Patienten Aufgaben für die Folgewoche zu geben: Die Patienten sollen wieder Dinge tun, die sie wegen der Krankheit aufgehört haben zu tun.

        Mit anderen Worten: Diese vom Therapeuten geforderten Aktivitäten fallen Patienten wegen der Krankheit schwerer, sind mühsamer und bereiten weniger Freude. Und zwar – das ist entscheidend – umso ausgeprägter, je schwerer die Krankheit ist! Man könnte sagen, die schwerer erkrankten Patienten werden „zermürbt“ (engl. Zermürbung = „attrition“).

        Von den Patienten mit 9 und 8 Punkten fühlen sich alle überfordert oder haben keine Hoffnung, dass diese Behandlung ihnen helfen könnte, und brechen ab. Von denen mit 7 Punkten sind es zwei Drittel, von denen mit 6 noch die Hälfte und von denen mit 5 Punkten scheidet ein Drittel vorzeitig aus der Behandlung aus. Von den leichter erkrankten Patienten mit 4 oder 3 Punkten bleiben alle in Behandlung.

        Damit haben wir 8 Patienten, die übrig bleiben: 1 Patient mit 7 Punkten, 2 Patienten mit 6, 2 mit 5, 2 mit 4 und 1 Patient mit 3 Punkten.

        Und siehe da, der neue Mittelwert liegt jetzt plötzlich nur noch bei (1×7 + 2×6 + 2×5 + 2×4 + 1×3 ) / 8 = 5.

        Allein dadurch, dass die schwerer erkrankten Patienten häufiger die Therapie verlassen, sind die in Behandlung bleibenden Patienten durchschnittlich weniger krank. Aus diesem Grund wirkt es oberflächlich so, als habe die Behandlung bei ihnen eine Besserung bewirkt.

        Und das alles, ohne dass sich am Gesundheitszustand auch nur eines einzigen Patienten überhaupt etwas geändert hätte! Genau dieses Phänomen heißt dann in der Fachliteratur „attrition bias“, was man grob mit „Verzerrung durch Verschleiß“ übersetzen kann.

      • Nelia 15. Oktober 2019 / 10:26

        Danke, das war ein sehr schönes, anschauliches Beispiel!

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