Angst
Alles, was Du über Escitalopram und Citalopram wissen möchtest
Diesen Text habe ich auch als Video aufgezeichnet, das findest du hier.
Ich habe das Kapitel für die nächste Auflage des Buches (die aber nicht vor 2023 kommen wird) überarbeitet, besser lesbar gemacht und übersichtlicher gestaltet. Wie es gute alte Tradition ist, veröffentliche ich hier den Textentwurf (dieser Text steht daher ausnahmsweise unter Copyright). Ich bitte Euch, mir Rückmeldung zum Text zu geben, auf Fehler oder Unvollständigkeiten hinzuweisen und mir zu sagen, wie ich es verständlicher beschreiben könnte.
Ansonsten: viel Spaß mit diesem Kapitel zu Escitalopram / Citalopram!
3.6.2 Escitalopram und Citalopram
- Citalopram ist seit den 90er-Jahren auf dem Markt. Sein wirksamer Bestandteil ist das Escitalopram, das inzwischen zunehmend häufiger eingesetzt wird.
- beide sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI).
- werden eingesetzt gegen Angsterkrankungen, Depressionen und Zwangserkrankungen.
- sind zumeist gut verträglich.
- Allerdings müssen bei beiden regelmäßig EKG-Kontrollen durchgeführt werden, weil beide die QTc-Zeit verlängern können.
- 10 mg Escitalopram entsprechen in ihrer Wirkung zumindest 20 mg Citalopram, aus bestimmten Gründen vielleicht sogar 30 bis 40 mg Citalopram.
- Escitalopram ist genauso wirksam und im Zweifel nebenwirkungsärmer, daher gibt es keinen triftigen Grund mehr, Citalopram zu verordnen.
Seit den 90er-Jahren ist Citalopram eines der am häufigsten verschriebenen Psychopharmaka. Das liegt unter anderem daran, dass Depressionen und Angststörungen sehr häufig sind, und dass Citalopram meist gut verträglich und wirkstark ist. Mit Escitalopram steht nun auch das wirksame Enantiomer des Citaloprams zur Verfügung, das möglicherweise sogar weniger Nebenwirkungen hat. Deswegen ist es für viele Psychiater das Antidepressivum der ersten Wahl geworden, vor Citalopram.
In diesem Kapitel beschreibe ich beide Substanzen zusammen, und weise auf Unterschiede hin, wenn sie von Bedeutung sind. Das betrifft insbesondere die Dosierung: 10 mg Escitalopram entsprechen 20 – 40 mg Citalopram. Auch die Nebenwirkungen können sich unterscheiden: Citalopram gilt als etwas nebenwirkungsreicher, weil auch das nicht wirksame R-Enantiomer Nebenwirkungen verursachen kann.
Pharmakologie
Was sind Enantiomere?
Citalopram besteht aus zwei Enantiomeren. Enantiomere verhalten sich wie die linke Hand zur rechten Hand. Wenn man seine linke Hand auf die rechte Hand legt, sieht man, dass diese nicht deckungsgleich sind. Der Daumen der linken Hand liegt über dem kleinen Finger der rechten Hand und der kleine Finger der linken Hand liegt über dem Daumen der rechten Hand. Die beiden Hände sind spiegelbildlich. Genau so kommen die meisten Moleküle in der Natur vor. Häufig hat nur eine der beiden Molekülvarianten eine chemische Wirkung. Stellen Sie sich einen Rezeptor diesbezüglich wie einen Handschuh vor. In einen linken Handschuh passt auch nur eine linke Hand. Genauso verhält es sich mit den beiden Molekülen, die im Citalopram enthalten sind. Citalopram ist eine Mischung aus gleichen Teilen S-Citalopram und R-Citalopram. Das wirksame Enantiomer ist das S-Citalopram, kurz genannt Escitalopram. Nur dieses entfaltet die gewünschten Wirkungen. In 20 mg Citalopram sind 10 mg S-Citalopram (= Escitalopram) und 10 mg des wirkungslosen R-Citalopram enthalten. Daher entsprechen 10 mg Escitalopram zumindest 20 mg Citalopram. Da das nicht-wirksame R-Enantiomer des Citaloprams aber vielleicht Wirkungen des L-Enantiomers blockiert, sehen viele die Äquivalenzdosis sogar höher, so könnten 10 mg Escitalopram auch 30 – 40 mg Citalopram entsprechen. Und da das nicht-wirksame R-Enantiomer des Citaloprams im Verdacht steht, sehr wohl zu den Nebenwirkungen beizutragen, gilt Citalopram als nebenwirkungsreicher als Escitalopram.
Pharmakodynamik
Escitalopram und Citalopram sind reine selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie haben praktisch keine Wirkung auf den Noradrenalin-Stoffwechsel und auf andere Rezeptoren. Daher verursachen sie typischerweise keine Müdigkeit oder Gewichtszunahme.
Pharmakokinetik
Beide Substanzen werden in der Leber hauptsächlich vom Cytochrom P450-2C19 in weitere wirksame Metabolite umgewandelt, die dann über die Niere ausgeschieden werden. Die Halbwertszeit von Escitalopram liegt bei ca. 30 Stunden, die des Citaloprams bei ca. 36 Stunden. Beide haben wirksame Metabolite mit teilweise deutlich längeren Halbwertzeiten.
Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln
In Kombination mit anderen serotonergen Substanzen wie MAO-Hemmern, Opioiden u. a. kann ein Serotonin-Syndrom (siehe Kapitel 3.7.1) auftreten. Ansonsten sind Wechselwirkungen selten.
Klinischer Einsatz
Depressionen
Bei leichtgradigen depressiven Episoden, die nicht im Rahmen einer rezidivierenden Depression auftreten, sondern eher als psychoreaktiv eingestuft werden, ist die Therapie der ersten Wahl die Psychotherapie. In dieser Indikation überwiegen die möglichen Nachteile einer Pharmakotherapie oft den realistischerweise erwartbaren Nutzen, und die Leitlinienempfehlung sowie der Stand der Wissenschaft unterstützen ein zurückhaltendes Vorgehen in diesen Fällen.
Bei mittelgradigen und schweren depressiven Episoden empfiehlt sich in der Regel eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie.
In dieser Indikation beobachtet man oft nach ca. 2 Wochen eine Verbesserung des Antriebs, in dieser Phase können andererseits in einigen Fällen vermehrt Suizidgedanken auftreten. Nach vier bis sechs Wochen tritt oft auch die Verbesserung der Stimmungslage ein, der Antrieb normalisiert sich und gegebenenfalls begleitend vorhandene Angstsymptome klingen ab.
Nach einmaliger depressiver Episode sollte man spätestens sechs Monate nach Ende der Episode eine Dosisreduktion und das Absetzen erwägen. In diesen Fällen gibt es in den letzten Jahren einen Trend zu eher zu langen Erhaltungstherapien.
Bei rezidivierenden Depressionen können Erhaltungstherapien von mehreren Monaten und wenigen Jahren sinnvoll sein, in schweren Fällen auch Dauerbehandlungen.
Angsterkrankungen
Bei Angsterkrankungen ist die Therapie der ersten Wahl die Psychotherapie. Viele Patienten erleben hierdurch eine ausreichende Besserung der Symptomatik. Noch stärkere Effekte lassen sich erzielen, wenn man Psychotherapie und ein antidepressives Medikament kombiniert.
Citalopram und Escitalopram sind zugelassen zur Behandlung generalisierter Angsterkrankungen, der Panikstörung und bei der Posttraumatischen Belastungsstörung.
Escitalopram ist darüber hinaus auch zugelassen zur Behandlung der sozialen Phobie.
Bei Angsterkrankungen setzt man üblicherweise eher höhere Dosierungen ein. In dieser Indikation sind SSRI oft verlässlicher wirksam als in der Behandlung von Depressionen.
In der Therapie von Angst und Panik ist besonders viel Geduld erforderlich. Panikanfälle hören oft schon nach zwei bis vier Wochen auf; bis eine deutliche Abnahme der Ängste eintritt, können aber erfahrungsgemäß vier bis zwölf Wochen vergehen.
Wenn die Symptomatik abgeklungen ist, sollte man einige Monate bis zu zwei Jahren warten, bevor man die Medikation langsam reduziert und schließlich absetzt.
Zwangserkrankungen
Für die Behandlung der Zwangserkrankung ist nicht das Citalopram, wohl aber das Escitalopram zugelassen. In dieser Indikation wählt man am ehesten die höchste Escitalopramdosis, die vertragen wird, bei unter 65-Jährigen also 20 mg. Die Kombination mit Psychotherapie ist immer sinnvoll, der Behandlungserfolg kann sich langsam über mehrere Wochen und Monate aufbauen. Die Behandlung sollte bei schwereren Erkrankungen auf mehrere Jahre angelegt sein.
Dosierung Escitalopram
- Unter 65 Jahre: max. 20 mg Escitalopram/Tag
- Über 65 Jahre: max. 10 mg Escitalopram/Tag
- Patienten mit Leberfunktionsstörungen: max. 10 mg Escitalopram/Tag
- Therapeutischer Referenzbereich: 15 – 80 ng/ml
Dosierung Citalopram
- Unter 65 Jahre: max. 40 mg Citalopram/Tag
- Über 65 Jahre: max. 20 mg Citalopram/Tag
- Patienten mit Leberfunktionsstörungen: max. 20 mg Citalopram/Tag
- Therapeutischer Referenzbereich: 50 – 110 ng/ml
Nebenwirkungen
Übelkeit
Escitalopram und Citalopram können wie alle SSRI zu Übelkeit und anderen gastrointestinalen Beschwerden führen. Auch können Unruhezustände mit Symptomen wie Nervosität, Zittern und Unrast auftreten. Oft gehen diese Nebenwirkungen nach einigen Tagen der Behandlung wieder weg. Etwa 10 bis 30 % der Patienten sind zumindest in der Eindosierungsphase von Übelkeit betroffen.
In diesem Fall sollte zunächst einige Tage abgewartet werden. Geht die Übelkeit nicht von selbst weg, sollte die Dosis reduziert werden. Bleibt die Übelkeit bestehen, ist der Wechsel auf ein anderes Präparat der nächste Schritt.
QTc-Zeit-Verlängerung
Sowohl Citalopram als auch Escitalopram können zu einer dosisabhängigen QTc-Zeit-Verlängerung führen. Diese begünstigt das Auftreten einer bestimmten Herzrhythmusstörung, der Torsade-de-point Tachykardie, die tödlich enden kann. Daher sind regelmäßige EKG-Kontrollen erforderlich. Für beide Substanzen gibt es einen Rote-Hand-Brief, der auf die Gefahr einer dosisabhängigen QTc-Zeit-Verlängerung hinweist, die maximalen Dosierungen beschränkt und Kombinationen mit anderen die QTc-Zeit verlängernden Medikamenten untersagt. Ein vorbestehendes Long-QT-Syndrom ist eine Kontraindikation.
Wie bei allen Medikamenten, deren Einnahme das QTc-Intervall verlängern kann, sollte bei Gabe von Citalopram der Elektrolytstatus regelmäßig kontrolliert und ggf. normalisiert werden. Die Patienten sollten darauf hingewiesen werden, bei „Herzstolpern“, Luftnot oder Ähnlichem einen Arzt aufzusuchen.
Gefahr der Begünstigung einer manischen Episode bei bipolar Erkrankten
Die entscheidende pharmakologische Behandlung bei bipolaren Erkrankungen ist die Phasenprophylaxe. In manischen Phasen wird diese höher dosiert und mit einem Antipsychotikum kombiniert.
Auf der anderen Seite sollte man nicht jede depressive Episode im Rahmen einer bipolaren Erkrankung auch mit Antidepressiva behandeln. Dies birgt eine ernsthafte Gefahr, den Umschlag in eine Manie zu begünstigen und hilft bei dieser Patientengruppe oft viel weniger gegen die depressive Symptomatik, als dies bei unipolaren Depressionen der Fall ist1.
Sexuelle Funktionsstörungen
SSRI und SNRI können die Empfindlichkeit der Schleimhäute der Klitoris und des Penis für sexuelle Reize reduzieren. Dies kann zu einem verzögertem Orgasmus führen. Tatsächlich wird das SNRI Duloxetin gegen vorzeitigen Orgasmus verschrieben.
Diese sexuellen Nebenwirkungen können möglicherweise lange Zeit nach dem Absetzen der SSRI/SNRI bestehen bleiben; dies wird PSSD (Post-SSRI Sexual Dysfunction) genannt. (Siehe Kapitel 3.7.4)
Citalopram / Escitalopram in Schwangerschaft und Stillzeit
Beide Substanzen sollen in der Schwangerschaft nur nach gründlicher Abwägung von Risiken und möglichem Nutzen gegeben werden. Eine dänische Studie aus dem Jahr 20172 hatte Hinweise darauf gegeben, dass die Einnahme von SSRI in der Schwangerschaft das Risiko von psychiatrischen Erkrankungen bei den Kindern erhöhen könnte. Wenn Citalopram/Escitalopram abdosiert werden soll, dann sollte dies auch in der Schwangerschaft schrittweise erfolgen.
Beide Substanzen gehen in die Muttermilch über, daher wird vom Stillen mit Muttermilch abgeraten.
Absetzsymptome
Wie bei allen SSRI kann es nach dem Absetzen des Medikaments – insbesondere nach plötzlichem Absetzen – zu unangenehmen Absetzerscheinungen (siehe Kapitel 3.7.3) kommen.
Sonstige Nebenwirkungen
Weitere unerwünschte Wirkungen wie Mundtrockenheit, Magen-Darm-Beschwerden, Nervosität, Kopfschmerzen, Zittern, Herzklopfen, vermehrtes Schwitzen, Akkommodationsstörungen der Augen oder Kraftlosigkeit treten manchmal zu Beginn der Behandlung auf, legen sich aber meist nach wenigen Tagen.
Sinnvolle Kontrolluntersuchungen

Mein persönliches Fazit
Escitalopram ist ebenso wie Citalopram ein gut und sicher wirksames Antidepressivum. Bei beiden Medikamenten sind regelmäßige EKG-Kontrollen notwendig. Seit es keinen relevanten Preisunterschied zwischen den beiden Präparaten mehr gibt, bevorzuge ich Escitalopram. In der Behandlung von Ängsten, Depressionen und Zwangserkrankungen zeigt es eine gute und verlässliche Wirkung bei meist guter Verträglichkeit. Dabei halte ich das Ende der Pharmakotherapie im Blick, zu lange Behandlungen von symptomfreien Patienten nach einmaliger depressiver Episode halte ich nicht für richtig.
Copyright
Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.
- DGBS e.V. und DGPPN e.V.: S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen. Seite 181 ff.https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-019.html ↩
- Liu X, Agerbo E, Ingstrup KG, Musliner K, Meltzer-Brody S, Bergink V et al. Antidepressant use during pregnancy and psychiatric disorders in offspring: Danish nationwide register based cohort study. BMJ. 2017; j3668. DOI: 10.1136/bmj.j3668. http://dx.doi.org/10.1136/bmj.j3668 ↩
Video „TOP 10 Fehler in Psychiatrie & Psychotherapie ist online
In diesem Video beschreibe ich mal die 10 größten Fehler, die ich bei psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen immer wieder sehe, und die mich ärgern. Alles sehr subjektiv, aber warum nicht? Viel Spaß beim Aufregen!
PC049 Die Gefühlssendung: Schuld, Stolz, Angst, Scham, Freude ist online!
Im ersten PsychCast nach der kleinen Sommerpause geht es um verschiedene Gefühle, die wir für Euch einmal gründlich sezieren. Wir philosophieren über zu Unrecht vernachlässigte Gefühle und die wichtigen Funktionen derselben.
Da die Sendung schon eine Weile voraufgezeichnet ist, können wir auf aktuelle Fragen und Rückmeldungen nicht eingehen. Ihr könnt aber noch für die BETTER CALL PsychCast Folge alle Fragen über die Psyche einreichen, die Euch interessieren (die angesprochene Sex-Folge ist bereits erschienen).
Die Fundsache der Woche ist das Buch Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert von Marie Kondo.
Die Folge findet ihr hier.
PsychCast 010: Angst-Killer ist online!
In der 10. Folge sprechen wir über Eure Fragen zu Angsterkrankungen, Quetiapin, Neuroleptika, die Bus-Übung, Couch Comic (wie eine Psychotherapie funktioniert), die Schilderung von Angstsymptomen beim Arzt, Angstniveaus nach Altersklassen, nach Kulturen, Rentenbegehren, Ermittlung von Angstursachen, Vermeidungsverhalten, das “Angstsystem”, die Agoraphobie, Versuchungssituationen, Angehörige von Angsterkrankten und ihre Möglichkeiten zu helfen, Wohlstand und Angst, Konfliktfähigkeit, irrationale Ängste, die Top-3-Angstkiller, vieles mehr und die PsychCast-SOMMERPAUSE.
Die Episode findet ihr hier.
Was wir von Tieren mit psychischen Erkrankungen lernen können
Kennen Sie eine Katze mit Zwangssymptomen? Eine depressiven Gorilla? Einen Hund mit PTSD?
Laurel Braitman erklärt in diesem TED-Talk, dass es psychische Erkrankungen bei Tieren wirklich gibt, wie man sie behandeln kann, und was wir daraus über psychische Erkrankungen bei Menschen und deren Therapie lernen können. Die Gemeinsamkeiten sind größer, als man so denkt. Ein sehr unterhaltsames Video!
Die Angst ist schneller als jeder Gedanke
Warum Gesprächstherapie allein bei Angsterkrankungen nicht ausreichen kann.
Angsterkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen. Isolierte Phobien, Agoraphobien, Generalisierte Angststörungen gehören zusammen genommen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in der Bevölkerung. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Behandelt werden Angststörungen zum einen mit Medikamenten, zum anderen mit Psychotherapie.
Die Angst ist ja zunächst einmal eine gesunde, lebensnotwendige emotionale Reaktion auf Gefahren. In bestimmten Situationen hängt das Überleben davon ab, dass eine Gefahr schnell erkannt wird und unmittelbar eine Angstreaktion mit einer geeigneten Konsequenz eintritt. Ich gucke vor mich in die Savanne, ich sehe einen auf mich zuspringenden brüllenden Tiger, ich habe sofort maximale Angst und flüchte ebenfalls sofort. Dieser Ablauf hat eine feste neurologische Bahn, in der er läuft: Ich sehe, höre, rieche etwas. Dieser Sinneseindruck wird vom Thalamus integriert und der weiteren Verarbeitung zugänglich gemacht. Es gibt einen heißen Draht zur Amygdala (Mandelkern) und diese prüft mit einer kurzen Rückfrage in der Erinnerung (Hippocampus), ob es sich um einen vertrauten Reiz handelt, der keine Gefahr bedeutet, um einen neuen Reiz, der der genaueren Einordnung bedarf, oder um einen bekannten Reiz, der Gefahr bedeutet. Im Falle des auf mich zuspringenden brüllenden Tigers handelt es sich um einen Gefahrenreiz. Die Amygdala macht dann kurzen Prozess und schlägt Alarm: Über den locus coeruleus und die Nebennierenrinde wird Adrenalin ausgeschüttet, das Herz schlägt schnell, die Hände werden feucht, die Atmung wird schneller, vielleicht entstehen auch Zittrigkeit und weiche Knie. Je nach Lage entsteht der Impuls zur Flucht oder zum Angriff. Im Falle des Tigers eher Flucht. Ich fliehe und bin gerettet. Und dann läßt die Angst langsam wieder nach.
Das alles geht sehr schnell und funktioniert zuverlässig. Es ist fest verdrahtet. Fällt Dir auf, was bei dem ganzen Ablauf keine Rolle gespielt hat? Was kam nicht vor? Richtig: Nachdenken kam nicht vor. Hätte auch zu lange gedauert. Können auch nur Menschen. Alle anderen Säugetiere haben aber auch Angst und reagieren mit Angriff oder Flucht, und die können gar nicht in Worten denken. Das heißt, Gedanken spielen ungefähr eine so wichtige Rolle, wie bei der Regulation des Blutdruckes: Ich kann mir zwar Gedanken und Sorgen über meinen Blutdruck machen, aber die Regulation des Blutdruckes läuft bei allen Tieren und auch beim Menschen unabhängig von allen Kognitionen. Na klar, sowohl Blutdruck als auch Angst können beeinflusst werden von Gedanken und Sorgen.
Und als Reizquelle für Ängste können neben Bildern von brüllenden Tigern auch Sorgen vor der Zukunft herhalten. Aber diese Gedanken sind dann Auslöser der Angst, nicht tragende Elemente der Mechanik des Angstablaufes.
Es gibt bei Angstzuständen neben diesem schnellen, neurobiologischen Weg schon auch noch einen zweiten, langsameren Weg. Ein Reiz, der mir Angst mach, wird im zweiten Schritt kognitiv geprüft, ob er wirklich Angst machen sollte. Und hier kann man auch ansetzen, um die Angst zu beeinflussen.
Mit Gesprächstherapien lassen sich nun zunächst einmal nur Kognitionen erfassen und beeinflussen. Und das ist oft auch sehr wichtig und notwendig für einen Behandlungserfolg. Um aber der Angst wirklich Herr zu werden, ist es nach Auffassung der Verhaltenstherapie irgendwann auch notwendig, den Ablauf der Angstmechanik anzugehen und abzuwandeln. Und daher haben alle verhaltenstherapeutischen Behandlungen der Angst immer ein Element der Problemaktualisierung. Am typischsten ist die systematische Desensibilisierung. Sie bringt den Patienten – nach sehr langer Aufklärung und Vorbereitung – kontrolliert in eine Situation, in der Angst abzulaufen beginnt. Und in der der Patient dann durch Nachdenken, aber eben auch durch konkretes Erleben erfahren kann, dass überhaupt nichts gefährliches passiert. Und das die Angst dann nachlassen kann. Und wenn das wiederholt passiert, dann nimmt die Angst auch tatsächlich ab.
Aber dafür reicht es eben gerade nicht aus, nur über Angst zu sprechen. Das ändert den mechanischen Ablauf der Angst nicht. In der Therapie muss diese Konfrontation mit der Angst geschehen, es muss Angst entstehen, damit die Neurobiologie sich Schritt für Schritt wieder abregen kann.
Und daher reicht Sprechen über die Kognitionen der Angst alleine nicht aus. Es bedarf zusätzlich der Problemaktualisierung – der tatsächlichen wiederholten kontrollierten Auslösung von Angst, und der sich dann anschließenden Erfahrung, dass nichts gefährliches passiert, damit sich auch das neurobiologische System der Angst wieder normalisiert.