Die Angst ist schneller als jeder Gedanke

Warum Gesprächstherapie allein bei Angsterkrankungen nicht ausreichen kann.
Angsterkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen. Isolierte Phobien, Agoraphobien, Generalisierte Angststörungen gehören zusammen genommen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in der Bevölkerung. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Behandelt werden Angststörungen zum einen mit Medikamenten, zum anderen mit Psychotherapie.
Die Angst ist ja zunächst einmal eine gesunde, lebensnotwendige emotionale Reaktion auf Gefahren. In bestimmten Situationen hängt das Überleben davon ab, dass eine Gefahr schnell erkannt wird und unmittelbar eine Angstreaktion mit einer geeigneten Konsequenz eintritt. Ich gucke vor mich in die Savanne, ich sehe einen auf mich zuspringenden brüllenden Tiger, ich habe sofort maximale Angst und flüchte ebenfalls sofort. Dieser Ablauf hat eine feste neurologische Bahn, in der er läuft: Ich sehe, höre, rieche etwas. Dieser Sinneseindruck wird vom Thalamus integriert und der weiteren Verarbeitung zugänglich gemacht. Es gibt einen heißen Draht zur Amygdala (Mandelkern) und diese prüft mit einer kurzen Rückfrage in der Erinnerung (Hippocampus), ob es sich um einen vertrauten Reiz handelt, der keine Gefahr bedeutet, um einen neuen Reiz, der der genaueren Einordnung bedarf, oder um einen bekannten Reiz, der Gefahr bedeutet. Im Falle des auf mich zuspringenden brüllenden Tigers handelt es sich um einen Gefahrenreiz. Die Amygdala macht dann kurzen Prozess und schlägt Alarm: Über den locus coeruleus und die Nebennierenrinde wird Adrenalin ausgeschüttet, das Herz schlägt schnell, die Hände werden feucht, die Atmung wird schneller, vielleicht entstehen auch Zittrigkeit und weiche Knie. Je nach Lage entsteht der Impuls zur Flucht oder zum Angriff. Im Falle des Tigers eher Flucht. Ich fliehe und bin gerettet. Und dann läßt die Angst langsam wieder nach.
Das alles geht sehr schnell und funktioniert zuverlässig. Es ist fest verdrahtet. Fällt Dir auf, was bei dem ganzen Ablauf keine Rolle gespielt hat? Was kam nicht vor? Richtig: Nachdenken kam nicht vor. Hätte auch zu lange gedauert. Können auch nur Menschen. Alle anderen Säugetiere haben aber auch Angst und reagieren mit Angriff oder Flucht, und die können gar nicht in Worten denken. Das heißt, Gedanken spielen ungefähr eine so wichtige Rolle, wie bei der Regulation des Blutdruckes: Ich kann mir zwar Gedanken und Sorgen über meinen Blutdruck machen, aber die Regulation des Blutdruckes läuft bei allen Tieren und auch beim Menschen unabhängig von allen Kognitionen. Na klar, sowohl Blutdruck als auch Angst können beeinflusst werden von Gedanken und Sorgen.
Und als Reizquelle für Ängste können neben Bildern von brüllenden Tigern auch Sorgen vor der Zukunft herhalten. Aber diese Gedanken sind dann Auslöser der Angst, nicht tragende Elemente der Mechanik des Angstablaufes.
Es gibt bei Angstzuständen neben diesem schnellen, neurobiologischen Weg schon auch noch einen zweiten, langsameren Weg. Ein Reiz, der mir Angst mach, wird im zweiten Schritt kognitiv geprüft, ob er wirklich Angst machen sollte. Und hier kann man auch ansetzen, um die Angst zu beeinflussen.
Mit Gesprächstherapien lassen sich nun zunächst einmal nur Kognitionen erfassen und beeinflussen. Und das ist oft auch sehr wichtig und notwendig für einen Behandlungserfolg. Um aber der Angst wirklich Herr zu werden, ist es nach Auffassung der Verhaltenstherapie irgendwann auch notwendig, den Ablauf der Angstmechanik anzugehen und abzuwandeln. Und daher haben alle verhaltenstherapeutischen Behandlungen der Angst immer ein Element der Problemaktualisierung. Am typischsten ist die systematische Desensibilisierung. Sie bringt den Patienten – nach sehr langer Aufklärung und Vorbereitung –  kontrolliert in eine Situation, in der Angst abzulaufen beginnt. Und in der der Patient dann durch Nachdenken, aber eben auch durch konkretes Erleben erfahren kann, dass überhaupt nichts gefährliches passiert. Und das die Angst dann nachlassen kann. Und wenn das wiederholt passiert, dann nimmt die Angst auch tatsächlich ab.
Aber dafür reicht es eben gerade nicht aus, nur über Angst zu sprechen. Das ändert den mechanischen Ablauf der Angst nicht. In der Therapie muss diese Konfrontation mit der Angst geschehen, es muss Angst entstehen, damit die Neurobiologie sich Schritt für Schritt wieder abregen kann.
Und daher reicht Sprechen über die Kognitionen der Angst alleine nicht aus. Es bedarf zusätzlich der Problemaktualisierung – der tatsächlichen wiederholten kontrollierten Auslösung von Angst, und der sich dann anschließenden Erfahrung, dass nichts gefährliches passiert, damit sich auch das neurobiologische System der Angst wieder normalisiert.