Was sind „Aktive Placebos“ als Kontrollgruppe für Antidepressiva?

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Ich lese gerade das äußerst interessante Buch „Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen“ von Peter C. Gøtzsche, einem Mitbegründer der Cochrane-Forschungen und dänischem Professor für Innere Medizin. Er vertritt in diesem Buch die These, dass psychiatrische Diagnosen zu häufig gestellt werden und viel zu viele Menschen mit Psychopharmaka behandelt werden. Um ehrlich zu sein, ich bin überzeugt davon, dass er recht hat. Es werden zu viele psychiatrische Diagnosen gestellt, und insbesondere im Bereich der leichten Depressionen werden auch für meinen Geschmack zu viel Antidepressiva verschrieben. Ich selbst würde nun das Kind nicht mit dem Bade ausschütten wollen, natürlich gibt es auch unzweifelhafte psychiatrische Erkrankungen, bei denen die psychopharmakologische Behandlung in meinen Augen einen höheren Nutzen als Schaden bewirkt, aber das stellt auch Gøtzsche gar nicht in Abrede.

In seiner Argumentation bringt er einen interessanten Aspekt ins Spiel, den der „Aktiven Placebos„. Es ist ja so, dass die Wirksamkeit von Antidepressiva am besten in doppelblinden, placebokontrollierten Studien herausgefunden werden kann. Dabei gibt es das Problem, dass gerade die älteren trizyklischen Antidepressiva, auf deren Untersuchung sich unsere Einschätzung der Wirksamkeit von Antidepressiva generell zu einem nicht unerheblichen Teil stützt, so ausgeprägte Nebenwirkungen haben, dass sowohl die Patienten der Studie als auch die Untersucher eben gerade nicht blind dafür gewesen sein konnten, ob ein bestimmter Studienpatient nun die Studienmedikation oder eine wirkungs- und nebenwirkungsfreie Zuckertablette erhalten hat. Die Neigung von beiden, der nebenwirkungsreichen Tablette auch eine höhere Wirkung zuzuschreiben, ist so etwa ein Drittel höher als bei der nebenwirkungsfreien Vergleichstablette. Alleine dieser Unterschied könnte aber schon den Unterschied der beiden Substanzen im Ergebnis der beobachteten Wirkungszuschreibung ausmachen.

Trizyklische Antidepressiva haben vor allem anticholinerge Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit. Diese Nebenwirkung ist dosisabhängig so stark, dass sie jedem an der Studie Beteiligten sofort auffällt. Und nun kommt die Idee: Wenn das Placebo nun nicht Milchzucker, sondern Atropin enthält, das eine genau so ausgeprägte Mundtrockenheit macht wie das Antidepressivum, dann ist die Verblindung wesentlich sicherer. Das heißt „Aktives Placebo“.

Es gibt eine Cochrane-Metaanalyse, die alle mit einem aktiven Placebo verblindeten Studien zusammenfaßt:  „Moncrieff J, Wessely S, Hardy R. Active placebos versus antidepressants for depression. Cochrane Db Syst Rev 2004; CD003012“. Die Zusammenfassung in einfacher Sprache lautet so:

This review examined trials which compared antidepressants with ’active’ placebos, that is placebos containing active substances which mimic side effects of antidepressants. Small differences were found in favour of antidepressants in terms of improvements in mood. This suggests that the effects of antidepressants may generally be overestimated and their placebo effects may be underestimated.

Die Wirkvorteile von Antidepressiva gegenüber Placebo waren vorhanden, Antidepressiva wirkten besser als die aktiven Placebos gegen Depressionen, aber die geschätzte Wirkstärke der Antidepressiva war in allen bis auf einer sehr positiven Studie deutlich schwächer, als in Studien, die Antidepressiva mit nicht aktiven Placebos vergleichen. 

Ich habe das Konzept der aktiven Placebos hier noch mal als Video erklärt:

Mein persönliches Fazit

In meinen Augen sind Antidepressiva bei mittelstarken und starken Depressionen wirkstärker als Placebos. Aber ihre Wirkstärke wird allgemein und meiner Meinung nach auch von Psychiatern und vielen psychiatrischen Patienten eher überschätzt. Studienlage und Leitlinien empfehlen Antidepressiva nicht bei leichten Depressionen, da die Nebenwirkungen in diesen Fällen die Wirkungen überwiegen. Wenn man sich mit aktiven Placebos einen besseren Eindruck von der Wirksamkeit der Antidepressiva macht, dann sinkt deren geschätzte Wirkstärke noch einmal. Wir sollten alle daran mitwirken, Antidepressiva mit Augenmaß einzusetzen und ihre Wirksamkeit gerade bei leichten und psychoreaktiven Depressionen nicht überschätzen.

Testosteron macht egoman

Wir ahnten es ja schon immer, jetzt haben Forscher am University College London um Nick Wright in einer Studie (Original hier) gezeigt, dass Testosteron die Fähigkeit zur Kooperation bremst und so die Ergebnisse in darauf abgestimmten Tests deutlich verschlechtert.

Das Experiment: 17 Paare von je zwei Frauen beurteilten kooperativ eine schwierige Einschätzungsfrage. Auf einem Monitor wurde ein Muster gezeigt, es sollte die richtige Aussage zum Kontrastverhältnis der Bilder gemacht werden. Beide Partner bewerteten die Aufgabe zuerst allein. Wenn sie nicht übereinstimmten, hatten sie den Auftrag, sich zu einigen. Durch diese Kooperation verbesserten die Partnerinnen unter normalen Bedingungen die Qualität des Ergebnissen, es setzte sich öfter die Partnerin durch, die richtig lag.

Die Intervention: In einem doppelblinden, randomisierten cross over design bekam eine Partnerin entweder Testosteron oder Placebo intravenös. Der Grund, warum keine Männer mitmachen durften, war, dass Männer ohnehin schon so viel Testosteron im Blut haben und auf Testosterongaben oft reagieren, indem sie selbst weniger Testosteron produzieren. Unübersichtlich. Bei Frauen, die physiologisch auch immer etwas Testosteron im Blut haben, führt die Gabe von Testosteron zu einem definierten, kurzen Anstieg dieses Hormons im Blut. Übersichtlich und für diese Studie sehr gut geeignet.

Das Ergebnis: Die Frauen, die Testosteron enthalten haben, haben sich sehr viel stärker bei den strittigen Fällen durchgesetzt. Aber eben auch dann, wenn sie falsch lagen. Die virilisierten Damen waren dominanter, durchsetzungsstärker und zeigten weniger Bereitschaft zur Kooperation. Und dadurch wurde das Ergebnis der Beratungen SCHLECHTER als ohne Testosteron.

Das Maß an Kooperation ist hier das Verhältnis aus Entscheidungen, bei denen sich die Versuchsteilnehmerin durchgesetzt hat (egozentische Entscheidung) im Verhältnis zu den Entscheidungen, bei denen sich die andere Partnerin durchgesetzt hat (allozentrische Entscheidung). Wen beide Entscheidungen gleich häufig aufgetreten wären, wäre das Verhältnis 1 gewesen.

Nach Gabe einer Spritze bei einer Versuchsteilnehmerin zeigte sich bereits unter Placebo eine Neigung zu egozentrischen Entscheidungsfindungen, das E(gozentrik) / A(llozentrik) Verhältnis stieg bereits unter Placebo auf 1,3. Schon das ist hochinteressant: Spritz einer Versuchsperson ein Placebo, von dem sie glaubt, es könnte Testosteron sein, und sie setzt sich in nachfolgenden Streit um eine Einschätzung stärker durch!

Unter tatsächlichem Testosteron nahm die Stärke dieser Durchsetzungsfreude aber eben noch signifikant und deutlich zu, das E/A Verhältnis stieg auf 1,6 Die Grafik unten zeigt dies.

Die Beurteilung: Wir wissen von Oxytocin, das auch „Kuschelhormon“ genannt wird, dass es kooperatives Verhalten fördert. Frauen schütten es beim Orgasmus, beim Stillen und beim Kuscheln (doch, wirklich, ehrlich, bei angenehmem Hautkontakt) aus, es fördert Nestschutzverhalten, Harmonie und Friedlichkeit. Es festigt die Paarbindung („Treuehormon“), verstärkt Liebe, Vertrauen und Ruhe. Und noch einmal, es fördert Kooperation. Auch Prolaktin und Vasopressin spielen eine wichtige Rolle bei der Regulation sexueller Paarbeziehungen (Übersicht hier)

Testosteron hat ja ebenfalls bekannte verhaltensbiologische Wirkungen. Bei Tieren steigert es Dominanzverhalten, Aggressivität und  Sexualtrieb. Bei Menschen wird es diesem Klischee nicht ganz so eindeutig gerecht. So förderte die einmalige Gabe von Testosteron beim Menschen die Fairness (Nature Artikel hier). Die Beobachtung bei jungen Sportlern, die sich mit Testosteron dopen, spricht für eine Zunahme von Aggression und Dominanzverhalten. Die hier beschriebene Studie zeigt nun nachdrücklich, dass Testosteron egomanes Verhalten fördert, und zwar so, dass das Ergebnis der Zusammenarbeit schlechter wird als ohne zusätzliches Testosteron. Sie zeigt, dass Kooperation das Ergebnis von Gruppen verbessern kann und dass zu starkes Dominanzverhalten bei bestimmten Aufgaben mehr schadet als nutzt.