Eine Grundsozialisation in der Medizin sagt, dass man zuerst eine Diagnose stellen muss, und sich daraus dann eine Therapie ableitet. Hat man eine präzise Diagnose, ergibt sich daraus eine ebenso klare Therapie. Also: Harnwegsinfekt mit Erreger XY, Therapie mit Antibiotikum Z. Klappt meistens auch gut.
In der Psychopharmakologie ist das nicht ganz so einfach. Zwar ist es zu Beginn der Überlegung notwendig, sich Klarheit über die Diagnose zu verschaffen. Aber das reicht bei weitem nicht aus. Die Diagnose ‚Psychose‘ zum Beispiel gibt vor, dass ein Neuroleptikum bei der Medikation vertreten sein sollte. Mehr sagt sie uns aber nicht.
Sehr viel hilfreicher ist hier der psychopathologische Befund. Wenn ich feststelle, dass ein Patient sehr ausgeprägt befehlende akustische Halluzinationen wahrnimmt, große Angst hat und psychomotorisch sehr unruhig und getrieben ist, dann werde ich ihm ein schnell wirksames hochpotentes Neuroleptikum in einer ausreichend hohen Dosis gegen die Halluzinationen verabreichen sowie ein sicher wirksames ausreichend dosiertes Benzodiazepin gegen Angst und Unruhe. Die Höhe der Dosis richtet sich im ersten Schritt nach der Schwere der Symptomatik. Und im folgenden werde ich Dosis und Wahl der Präparate an der Wirkung orientieren. Stellt sich nach der erwarteten Zeit eine ausreichende Wirkung ein, ist die Dosis angemessen. Reicht die Wirkung nicht, muss die Dosis gegebenenfalls gesteigert werden. Ist zu viel Wirkung festzustellen, zum Beispiel eine zu hohe Sedierung bei Benzodiazepingabe, ist die Dosis zu reduzieren.
Praktisch alle Psychopharmakaklassen sind bei mehr als nur einer Diagnose anwendbar. So werden Neuroleptika, oder klarer benannt ‚Antipsychotika‘, eben nicht nur bei Psychosen verordnet, sondern auch bei der wahnhaften Depression. Antidepressiva werden nicht nur bei Depressionen verordnet, sondern auch bei Angststörungen und Zwangserkrankungen. Sedierende Medikamente und Anxiolytika können bei praktisch allen psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt werden.
Die Psychopharmakotherapie orientiert sich also primär an Symptomen, nicht primär an Diagnosen.
Es ist wichtig, sich das klar zu machen, denn einige Symptome verandern sich sehr schnell, und dann soll auch die psychopharmakologische Behandlung schnell angepaßt werden. Ein Patient, der keine Angst und keine Unruhe mehr hat, braucht auch keine Benzodiazepine mehr. Natürlich darf man nach längerer Gabe von Benzodiazepinen die Dosis nicht abrupt absetzen. Aber er braucht sie eben genauso wenig, wie ein Patient, der keine Schmerzen mehr hat, Schmerzmittel braucht: Er braucht sie nicht mehr.