Kann Ritalin eine Substitutionsbehandlung für Kokainabhängige werden?

Langjährig Opiatabhängige, die trotz mehrerer Therapieversuche kein opiatabstinentes Leben mehr schaffen, werden fast weltweit in schönem Einvernehmen mit Methadon oder Polamidon behandelt. Diese Substanzen substituieren das Opiat, dessen Entzug sonst dauerhaft unaushaltbar sein kann, ohne ein ausgeprägtes Glücksgefühl zu vermitteln. Methadon und Polamidon haben eine Halbwertszeit von etwa einem Tag, so dass sie keinen Kick machen, aber 24 Stunden wirken.

Für Kokainabhängige gibt es bislang keine etablierte Substitutionstherapie. Dabei drängt sich pharmakologisch ein Wirkstoff auf: Retardiertes Methylphenidat aktiviert sehr ähnliche Rezeptoren und Netzwerke, wirkt aber länger und führt daher zu einer dauerhaften Besetzung der entsprechenden Rezeptoren, ohne bei Einnahme einen Kick zu verursachen.

Dies ist pharmakologisch sehr analog der Methadonsubstitution bei Opiatabhängigen.

Dieser Artikel im JAMA beschreibt eine sehr lesenswerte Studie, die in der funktionellen Bildgebung Hinweise darauf findet, dass Methylphenidat bei Kokainsüchtigen bestimmte neuronale Aktivierungen normalisiert.

Klinische Studien hierzu gibt es noch nicht, aber sollte es sich zeigen, dass Methylphenidat (z.B. Ritalin®) in der Lage ist, Kokainabhängige durch Substitution in die Lage zu versetzen, vom illegalen Markt Abstand zu nehmen und sollten sich ähnlich positive Auswirkungen zeigen, wie sie die Opiatsubstitution zeigt (weniger Beschaffungskriminalität, weniger körperliche Erkrankungen, besserer Weg ins Hilfesystem…), dann könnte für bestimmte Patienten viel gewonnen sein.

Quelle: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/54971/Ritalin-koennte-gegen-Kokainabhaengigkeit-helfen

Methylphenidat bei Erwachsenen: Medikinet adult

Methylphenidat, Handelsname z.B. Medikinet adult® ist eines der besonders umstrittenen Psychopharmaka. Der Einsatz bei gesichertem, schwerem, anders nicht behandelbarem ADHS bei Kindern und Jugendlichen ist inzwischen eine etablierte Therapie. In den letzten Jahren entwickelte sich aber eine sehr breite Diskussion auch in der Erwachsenenpsychiatrie. Ausgangspunkt waren zunächst diejenigen Patienten, die im Kindesalter ein ADHS entwickelten und erfolgreich mit Methylphenidat behandelt wurden, aber nicht, wie der Großteil der Patienten, vor dem 18. Lebenjahr soweit gebessert waren, dass sie das Methylphenidat nicht mehr brauchten. Bei diesen Patienten war es dann lange Zeit so, dass die Verschreibung ab dem Tag des 18. Geburtstages plötzlich „off-label“ war, von der Krankenkasse nicht mehr bezahlt werden musste und irgendwie ungebührlich wirkte. Bei der Verordnung über ein Betäubungsmittelrezept war das schon etwas merkwürdig. Seit April 2011 ist mit Medikinet adult® nun auch ein Präparat zur Behandlung von Erwachsenen mit ADHS zugelassen.

Geschichte

Methylphenidat wurde erstmals 1944 von Leandro Panizzon, einem Angestellten der schweizerischen Firma Ciba (heute Novartis), synthetisiert. Zu der damaligen Zeit war es üblich, Selbstversuche mit neu entwickelten Substanzen durchzuführen – so probierten Leandro Panizzon und seine Ehefrau Marguerite („Rita“) Methylphenidat aus. Besonders beeindruckt war Marguerite davon, dass sich ihre Leistung im Tennisspiel nach Einnahme von Methylphenidat steigerte. Von ihrem Spitznamen Rita leitet sich der bekannte Handelsname Ritalin® für Methylphenidat ab. Ritalin wurde 1954 von Ciba auf dem deutschsprachigen Markt eingeführt. Das Medikament wurde in Deutschland zunächst rezeptfrei abgegeben, aber 1971 dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt.

Pharmakologie

Methylphenidat gehört zu den klassischen Phenethylaminen und ist, wie auch das Phenethylamin Amphetamin, ein indirektes Sympathomimetikum mit zentraler Wirkung. Die chemische Struktur ähnelt der der Katecholamine. Methylphenidat wirkt anregend und aufregend. Es unterdrückt Müdigkeit und Hemmungen und steigert kurzfristig die körperliche Leistungsfähigkeit. Normalerweise bei körperlicher Überlastung auftretende Warnsignale wie Schmerz und Erschöpfungsgefühl werden vermindert. Methylphenidat hemmt den Appetit.
Methylphenidat ist ein Dopamin und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. In geringem Maße sorgt Methylphenidat für eine direkte Freisetzung von Katecholaminen. Methylphenidat wirkt außerdem als Agonist an den Serotonin-Rezeptoren 5-HT1A und 5-HT2B.

Klinischer Einsatz bei Kindern und Jugendlichen

Es hat sich gezeigt, dass Methylphenidat bei Patienten mit ADHS zu einer deutlichen Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit führt. Das verwundert zunächst. ADHS Patienten sind ja unruhig, hibbelig und ablenkbar. Amphetamine machen den Gesunden aber auch unruhiger, umtriebiger und eher ablenkbarer. Wie kann eine Substanz, die unruhig macht, einen krankhaft Unruhigen zu besserer Konzentrationsfähigkeit führen? Ein häufig formuliertes Bild ist, dass im Gehirn von ADHS Kranken eine zu geringe Aktivität besteht. Die ständigen Ablenkungen sollen das innere Aktivitätsniveau auf ein normales Niveau anheben. Methylphenidat mache nun genau das, und dadurch könne sich der Kranke dann wie ein Gesunder ganz normal konzentrieren, ohne sich ständig irgendwo ablenken zu müssen. Das Bild ist eingängig und überzeugend. Ob es richtig ist, ist mir nicht ganz klar.
Methylphenidat ist im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivitäts-Störungen bei Kindern ab einem Alter von 6 Jahren angezeigt, wenn sich andere therapeutische Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben. Die Diagnose darf sich nicht allein auf das Vorhandensein von Symptomen stützen, sondern muss auf einer vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten basieren. Eine therapeutische Gesamtstrategie beinhaltet sowohl psychologische, pädagogische, soziale als auch medikamentöse Maßnahmen. Zum genauen Einsatz von Methylphenidat ist vieles zu sagen. Die aktuell verfügbare ->S3 Leitlinie Hyperkinetische Störung soll zum Ende des Jahres 2012 aktualisiert werden. Sie ist dennoch sehr lesenswert und geht auf die wichtigsten Aspekte der Verordnung ein.
In der Leitlinie steht allerdings nicht, dass viele Kinder- und Jugendpsychiatrien, wenn es um die stationäre Einstellung auf Methylphenidat geht, eine längere Therapiephase vorschalten, in der sie an einem bestimmten Tag entweder Methylphenidat oder ein Placebo ausgeben. Patient, Eltern und Behandlungsteam beurteilen dann die jeweilige Symptomschwere an diesem Tag. Zeigt sich keine durchgreifende Besserung unter Methylphenidat, wird es nicht weiter verordnet. Dieses Vorgehen ist in der Erwachsenenpsychiatrie leider sehr selten. Es würde geeignet sein, nicht hilfreiche oder missbräuchliche Verordnungen zu reduzieren.

Methylphenidat bei Erwachsenen

Bei Erwachsenen sind meiner Meinung nach drei unterschiedliche Ausgangssituationen zu unterscheiden:

Fortsetzung einer bereits im Kinder- oder Jugendlichenalter erfolgreich begonnenen und noch erforderlichen Therapie

Diese Gruppe ist eher unproblematisch. Die aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie übergeleiteten noch sehr jungen Patienten kann man oft einfach noch einige wenige Jahre weiterbehandeln, und die Dosis langsam reduzieren, irgendwann dann ganz absetzen. Sie bereiten weniger Bedenken.

Neubeginn einer Therapie mit Methylphenidat bei Erwachsenen, die nie zuvor damit behandelt worden sind

Es kommen nicht selten erwachsene Patienten zum Psychiater, die über Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbarkeit, Unruhe und verminderte Ausdauerleistungsfähigkeit klagen. Aus der Presse sind sie aufmerksam auf das Krankheitsbild ADHS geworden und haben in aller Regel auch schon viel darüber gelesen. Die zu erwartenden Symptome kennen sie auswendig. Viele erwarten einen Therapieversuch mit Methylphenidat. Hier sind Untersuchungen an verschiedenen Tagen erforderlich, Gespräche mit unterschiedlichen Bezugspersonen und eine ausführliche psychologische Testung. Bei einigen dieser Patienten ist ein Therapieversuch mit Methylphenidat unter enger Kontrolle gerechtfertigt.

Neubeginn einer Therapie mit Methylphenidat bei Erwachsenen, die eine Amphetaminabhängigkeit in der Vorgeschichte haben

Diese Patientengruppe macht am meisten Kopfzerbrechen. Nicht alle berichten von der vorbestehenden Amphetaminabhängigkeit. Und einige erhoffen sich einfach eine „Substitution“ mit Methylphenidat, um nicht weiterhin im gleichen Maße wie zuvor illegal Amphetamine konsumieren zu müssen. Bei diesen Patienten ist naturgemäß eine außerordentlich gründliche Prüfung der Indikation geboten, sie sollte von einem mit dieser Patientengruppe erfahrenen Arzt durchgeführt werden. Natürlich sollen auch diejenigen Patienten, die ein ADHS haben, und bislang im Sinne einer „Selbstmedikation“ Amphetamine konsumiert haben, das für sie hilfreiche Medikament bekommen können. Eine „Substitution“ ist aber nicht Sinn der Übung und muss abgelehnt werden.

Werden die Kinder wirklich immer kranker?

Ein Artikel in der März Ausgabe der Clinical Pediatrics zeigt, dass die Rate an ADHS Diagnosen und ADHS Medikationen in den letzten 20 Jahren in Amerika buchstäblich in den Himmel geschossen ist. Die hier gezeigte Grafik zeigt an, bei wie vielen von je 1000 Arztkonsultationen von 5-18 jährigen Jungen bzw. Mädchen die Diagnose ADHS gestellt wurde und wie oft dies spezifisch, entweder mit dem Amphetamin Ritalin oder dem Simulanz Atomoxetin nehandelt wurde.

Im Jahr 1991 wurde die Diagnose noch bei 40 von 1000 Jungen in diesem Alter, die zum Arzt gebracht wurden, gestellt, mediziert wurden 25 von 1000 Jungs. Im Jahr 2008 wurde die Diagnose bei 140 von 1000 Jungen gestellt, 105 von 1000 wurden behandelt.

Das kann jetzt natürlich bis zu zwei Gründe haben: Entweder ADHS wurde früher zu selten diagnostiziert (stimmt vielleicht) oder / und ADHS wird heute mit Abstand zu häufig diagnostiziert.

Also mich muss man dazu nicht fragen. Ich kann mir zwar zum einen vorstellen, dass es früher zu selten diagnostiziert wurde, aber ich bin absolut sicher, dass es gegenwärtig mit weitem Abstand zu häufig diagnostiziert wird. Hat man früher oft noch gesagt: „Jungs sind in dem Alter halt hibbelig“ ist heute die Erwartungshaltung der Eltern an den Arzt: „Der Junge schreibt nur noch vieren, Sie wissen doch selbst, dass er die Kriterien eines ADHS erfüllt, verschreiben Sie ihm Ritalin“. Und das in Amerika noch weitaus stärker als in Deutschland, die oben genannte Studie bezieht sich auf die amerikanische Verschreibungspraxis.

Die Kriterien für ADHS sind aber eben auch recht unspezifisch, und mit etwas Willfährigkeit erfüllen die viele.

In der Erwachsenenpsychiatrie begegnen mir auch viele Menschen, die sagen, sie hätten zwar in der Kindheit kein ADHS diagnostiziert bekommen, aber sie seien auch leicht ablenkbar. Amphetamine hätten immer eine schöne Wirkung auf sie gehabt, dass müsse doch als Selbstmedikation verstanden werden, ich möge doch nun bitte Ritalin verschreiben. Ich lehne das regelmäßig ab. Mein Angebot, mal einen Versuch mit Atomoxetin zu machen, hat aus dieser Gruppe noch keiner angenommen bzw. länger als eine Woche mitgemacht.

Ich habe aber auch zwei PatientInnen gehabt, die schon als Kind glaubhaft die Diagnose ADHS wirklich hatten und im jungen Erwachsenenalter von mir Ritalin weiter verordnet bekommen haben.

Es gibt ADHS natürlich schon, aber seltener als von den Patienten und ihren Eltern vermutet.

Sclar DA, Robison LM, Bowen KA, Schmidt JM, Castillo LV, and Oganov AM (2012). Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder Among Children and Adolescents in the United States: Trend in Diagnosis and Use of Pharmacotherapy by Gender.Clinical pediatrics PMID: 22399571