„Medikation gewordene Ratlosigkeit“

Der Besuch des DGPPN-Kongresses lohnt sich eigentlich immer, schon wegen der vielen Kleinigkeiten, die man so aufgreift.
Eine Schweizer Ärztin hat über die häufig zu beobachtende merkwürdige Medikation von Borderline-Patienten gesprochen.
Es gibt Patienten, die einen hohen Leidensdruck haben, der aber von einer bestimmten Medikation nicht besser wird. Das führt oft dazu, dass ein einmal ausprobiertes Medikament nicht abgesetzt wird, weil man unsicher ist, ob es dem Patienten ohne dies Medikament nicht noch schlechter geht, als mit dem Medikament, und statt dessen eher ein weiteres Medikament angesetzt wird. Nach einer längeren Behandlung, am besten durch viele verschiedene Ärzte, sieht die Medikation oft so ähnlich wie diese:

  • Quetiapin 25-0-25-0 mg
  • Quetiapin ret 0-0-0-150 mg
  • Aripiprazol 5-0-0-0 mg
  • Citalopram 30-0-0-0 mg
  • Mirtazapin 0-0-0-15 mg
  • Valproat 300-0-450-0 mg
  • Lamotrigin 100-100-100-0 mg
  • Truxal 50-25-50-25 mg
  • Diazepam 5-5-5-5 mg
  • Zopiclon 0-0-0-7,5 mg
  • Metamizol 500-500-500-500 mg
  • Pipamperon bei Bedarf

Oder andere Medikamente dieser Wirkstoffgruppen. Also praktisch aus jeder in der Psychiatrie verfügbaren Medikamentengruppe so ein bis mehrere Substanzen. Gegen was da was helfen soll oder gar wirklich hilft, kann man bei so einer Kombination nicht mehr feststellen. Und die Diagnose oder eine erkennbare Therapierichtung spiegeln sich hier auch nicht gerade wieder…

Ich denke schon, dass auch bei der Borderline-Erkrankung in bestimmten Phasen bestimmte Medikamente sinnvoll sein können. Besteht gegenwärtig eine depressive Phase, ist ein Antidepressivum sinnvoll. Ein niedrig dosiertes SSRI kann auch außerhalb einer depressiven Phase etwas zur Stabilität beitragen. Und auch ein niedrig dosiertes Sedativum bei Bedarf kann hilfreich sein.

Wenn aber praktisch alle zur Verfügung stehenden Wirkstoffgruppen nach dem Gießkannenprinzip zusammen eingesetzt werden, ist das eher nicht mehr der Ausdruck einer Therapiestrategie. Diese Medikation hat die Schweizerin „Medikation gewordene Ratlosigkeit“ genannt. Besser kann man es nicht beschreiben.

Wenn man sieht, dass ein Patient eine solche Medikation erhält, ist es erforderlich, sich in Ruhe mit dem Patienten hinzusetzen und jedes einzelne Medikament zu prüfen. Seit wann erhält er es? Gegen was wurde es ursprünglich eingesetzt? Hat es in dieser Hinsicht geholfen oder nicht? Soll man es belassen oder einen Absetzversuch machen? Bei mehreren Medikamenten mit unklarer Indikation muss man Absetzversuche natürlich schrittweise durchführen, eines nach dem anderen. Dann muss man einige Tage warten, um zu sehen, ob sich die Symptomatik ändert. Bei ausbleibender Verschlechterung kann man dann das nächste Medikament absetzen. Ich selbst reduziere bei fraglicher Indikation die Neuroleptika immer besonders konsequent. Aber auch Antiepileptika und Sedativa müssen bei fehlender Indikation abgesetzt werden. Am Schluss kann man oft die Hälfte der Medikamente absetzen, ohne dass es dem Patienten schlechter geht. Aber er hat nur noch halb so viele Nebenwirkungen und weitaus weniger Interaktionen. In aller Regel geht es ihm deutlich besser nach so einer Medikamentendiät…

11 Gedanken zu “„Medikation gewordene Ratlosigkeit“

  1. huffw 7. Dezember 2016 / 11:19

    Sehr häufig – m.E. viel zu häufig – wird bei Menschen mit der Diagnose einer Borderline-Störung ein SSRI rezeptiert. Eine fundierte Evidenz dafür gibt es (wohl) nicht. Bessere Erfahrungen gibt es für niedrig dosiertes Aripiprazol.

    • Ovid 7. Dezember 2016 / 17:21

      Eine Studie bitte dazu. Ich war von Apriprazol aufgeputscht und konnte nicht mehr schlafen. Zum Schlafen gab es dann Quetiapin….

  2. Jürgen Becker 7. Dezember 2016 / 12:11

    Genau das ist ein „Problem“ in der Behandlung von psychischen Erkrankungen. Weil vieles/alles nichts oder wenig hilft, kommt ein neues Medikament zu den alten hinzu usw.
    Der Arzt will kein Risiko eingehen. Der Patient weiß noch weniger, was er tun soll.
    Die Medikamente die es gibt (AD und Beruhigungsmittel) helfen nicht jedem (nur den Verkäufern und Behandlern im wirtschaftlichen Sinne).
    Für die Pharmaindustrie ist dieser Zustand ideal.
    Der einzige Weg ist eine bessere Nachweisbarkeit der Wirkung von Psychopharmaka.
    J. Becker

  3. Der Emil 7. Dezember 2016 / 13:45

    Ich habe andere Medikamente (nun gut, auch Opipramol) knapp 9 Monate abgesetzt, ohne daß der Arzt wußte … Danach war ich wieder bei ihm, mußte mir eine Standpauke anhören und bekam dann statt sechs nur noch vier in z.T. verringerter Dosis (Amlodipin und ein Analgetikum fielen weg).

    http://www.depression-heute.de/blog/psychiatrie-in-der-krise-warum-sind-die-therapien-so-ineffizient schrieb erst u.a. etwas über notwendige andere Behandlungsleitlinien (ich weiß nicht, ob der Artikel schon bekannt ist).

  4. Interessent 7. Dezember 2016 / 13:59

    Das würde ich nicht Medikation gewordene Ratlosigkeit, sondern unstrukturiert und undurchdacht nennen.

    Bei Zopiclon und Truxal ist wohl zu beachten, dass diese selbst depressiogen wirken können. Wenn das Symptombild gerade durch „anxiety“/Instabilität usw. geprägt ist, ist Zopiclon meiner Erfahrung nach kontraproduktiv, weil die Symptomatik am nächsten Tag verstärkt auftritt (iSe Rebound-anxiety). Das ist zwar nicht so viel beschrieben wie bei Triazolam, aber man sollte das beobachten!

    Wenn man sich also schon zur Verordnung eines Benzodiazepins entschieden hat, dann ist eher ein Anxiolytikum oder Bezondiazepin-Hypnotikum hilfreich. Von der Verträglichkeit und vom therapeutischen Effekt her würde ich aber ein Anxiolytikum bevorzugen, das bekanntermaßen ja auch schlaffördernd wirkt. Und eigentlich sollte man auch erstmal versuchen, es bei einer abendlichen Einmalgabe zu belassen.

    Für die mittel- und langfristige Behandlung gibt es doch aber Evidenzen für Quetiapin, das m.E. aber auch bevorzugt nur abends einzunehmen ist, weil die stimmungsstabilisierenden Effekte auch den Tag über gegeben sind. In dieser Indikation hat es meiner Meinung nach einen differentiellen Wirkvorteil gegenüber anderen Stoffen und ist deshalb auch so verbreitet.

    Im Zusammenwirken sind die meisten o.g. Substanzen depressiogen, sodass es auch kein Wunder ist, dass sich aus dem Organismus heraus keine vitalisierenden/salutogenetischen Impulse mehr entwickeln können. Deshalb sollten auch Substanzen wie Quetiapin gegenüber den rein dämpfenden Substanzen Truxal, Pipamperon bevorzugt werden.

    Ich vermute, dass entweder was mit Aripiprazol oder eine Kombination eines SSRI/SNRI mit Quetiapin und vorübergehend ein Anxiolytikum die besten Effekte erwarten lassen dürfte.

  5. Ovid 7. Dezember 2016 / 17:19

    Es ist nicht direkt Ratlosigkeit. Es ist “ viel hilft viel“. Das ist übrigens nicht nur bei Borderlinern so, sondern auch bei schizoaffektiven Störungen. Auch da geben Psychiater Neuroleptika Und Antidepressiva/ Stimmungsstabilisatoren und wenn sich der Patient dann mies fühlt, gegen die Nebenwirkungen noch niederpotente NL oder ganz arg beliebt “ Lyrica“. Bei den Neuroleptika dann auch gerne ein aktivierendes wie Apriprazol und ein dämpfendes wie Quetiapin . Damit hat man alle Eventualitäten abgedeckt. Ich nenne das „Der Patient als Versuchskaninchen“.
    Ich selbst hatte Haloperidol, Quetiapin, Olanzapin, Risperidon, Paliperidon, Aripiprazol
    Lorazepam, Promethazin, Chlorprothixen, Melperon und Pipamperon sogar alles gleichzeitig, besonders wenn eines ein- und ein anderes ausgeschlichen wurde.
    Dann braucht man sich aber auch über fehlende compliance nicht zu wundern.

    • Susanne_Meyer 27. Dezember 2016 / 22:21

      wenn ein Medikament langsam gegen ein anderes ausgetauscht wird, ist die gleichzeitige Einnahme beider ja nur vorübergehend.

      Bei der Kritik an der Polypharmazie geht es ja eigentlich um die insgesamte Medikamentenlast, die der Patient zu tragen hat.

      Nur ein Medikament zu nehmen sollte meiner Meinung nach nicht zum Dogma erhoben werden. Zum Beispiel können zwei niedrig dosierte Medikamente verträglicher sein als ein mittelgradig dosiertes.

      Das Problem ist die insgesamte Medikamentenlast und das hier im Blogeintrag und in einem Kommentar gut beschriebene Problem

      „Es gibt Patienten, die einen hohen Leidensdruck haben, der aber von einer bestimmten Medikation nicht besser wird. Das führt oft dazu, dass ein einmal ausprobiertes Medikament nicht abgesetzt wird, weil man unsicher ist, ob es dem Patienten ohne dies Medikament nicht noch schlechter geht, als mit dem Medikament, und statt dessen eher ein weiteres Medikament angesetzt wird.“

      und

      „Genau das ist ein „Problem“ in der Behandlung von psychischen Erkrankungen. Weil vieles/alles nichts oder wenig hilft, kommt ein neues Medikament zu den alten hinzu usw.
      Der Arzt will kein Risiko eingehen. Der Patient weiß noch weniger, was er tun soll.
      Die Medikamente die es gibt (AD und Beruhigungsmittel) helfen nicht jedem“

  6. Susanne_Meyer 17. Dezember 2016 / 01:07

    Das Medikamentenbudget der Praxis schont das ja auch nicht gerade, eine solche Vorgehensweise

  7. Susanne_Meyer 17. Dezember 2016 / 01:13

    P.S: Ist Metamizol nicht das Schmerzmittel Novaminsulfon, bekannt unter dem Namen Novalgin

    Hatte da der Patient auch ein Schmerzproblem (Rückenschmerzen/Kopfschmerzen/etc.)

    • Ovid 17. Dezember 2016 / 13:35

      PIAs sind beispielsweise nicht gedeckelt…..

  8. Susanne_Meyer 9. Januar 2017 / 22:10

    In diesem Arikel in der WELT, bereits von 2007, wird das häufig anzutreffende Problem auch gut beschrieben: https://www.welt.de/wissenschaft/article4620227/Zu-viele-Psychopillen-senken-die-Lebenserwartung.html

    „Es ist Standard in psychiatrischen Kliniken: Ein Patient stellt sich mit schweren psychischen Problemen vor. Panikattacken und Wahrnehmungsstörungen hindern ihm am Alltagsleben. Von verschiedenen Ärzten wurden ihm verschiedene Medikamente verordnet. Geholfen haben die schon – aber immer nur kurz, obwohl er die Dosis langsam erhöht hat. Auch zusätzliche Pillen haben das Leid nicht aufhalten können.

    Ein häufiges Problem bei Psychopharmaka.“

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