Depotneuroleptika

Das Kapitel „Depotneuroleptika“ in meinem Buch benötigte mal wieder eine Aktualisierung, da es mit TREVICTA® und OKEDI® zwei neue Depots auf dem Markt gibt, die ich noch nicht aufgeführt hatte. Ich habe es auch etwas vereinfacht. Wie es hier auf dem Blog guter Brauch ist, stelle ich das Kapitel hier zur Diskussion, mit der Bitte, Fehler, Fehlendes und Verbesserungsvorschläge in die Kommentare zu schreiben. Da der Text später im Buch erscheinen soll, steht er unter Copyright.

Einige der typischen Neuroleptika wie Haloperidol, Flupentixol oder Fluphenazin stehen schon seit Jahrzehnten auch als Depotpräparat zur Verfügung. Diese Darreichungsform galt lange Zeit für eine recht große Patientengruppe als besonders sicher und angemessen. Mit dem Aufkommen der Atypika änderte sich das Verhältnis aus Nutzen und Nachteilen, weil die Typika auch in der Depotform nebenwirkungsreicher sind als die Atypika. Mit Risperidon kam ein erstes Atypikum in Depotform auf den Markt, inzwischen stehen auch Olanzapin und Aripiprazol als Depot zur Verfügung. Paliperidon ist als monatlich oder als 3-monatlich zu gebendes Depot erhältlich. Risperidon steht in einer Formulierung zur Verfügung, die ohne Auftitrierung direkt nach der ersten Depotgabe den endgültigen Blutspiegel aufbaut.

Zum Einsatz eines Depotpräparates gibt es immer wieder unterschiedliche Einschätzungen. Wenn ein psychiatrischer Patient, der eine neuroleptische Medikation benötigt, diese immer wieder nach einer gewissen Zeit gegen ärztlichem Rat absetzt, kommt regelmäßig der Ruf nach einem Depotpräparat auf. Man muss jedoch bedenken, dass ein Patient, der sein Neuroleptikum nicht mehr nehmen möchte, es auch als Depot nicht nehmen wird. Depots haben große Vorteile, wenn jemand zwar alle 2–4 Wochen einen Arzt aufsucht, aber zwischenzeitlich eine Tabletteneinnahme nicht hinbekommt, etwa weil er obdachlos ist und das Depot für ihn praktischer ist. Sie sind auch vorteilhaft, wenn ein Patient die Medikation zwar möchte, aber die Tabletteneinnahme ihm zu lästig oder zu kompliziert ist oder er sie häufig vergisst.

Man muss auf der anderen Seite beachten, dass es bei nicht steril applizierten Depotinjektionen zu einem Spritzenabszess kommen kann, der die Gesundheit erheblich gefährden kann und manchmal zu einer großen Narbe führt. Das passiert mit Tabletten nicht. Das Risiko eines Spritzenabszesses muss einem klaren Vorteil der Depotmedikation gegenübergestellt werden.

Wenn ein Patient ein Neuroleptikum nicht nehmen möchte und es keine gesetzliche Grundlage wie eine Bewährungsauflage gibt, dann kann er auch eine Depotmedikation jederzeit absetzen. Immerhin – man sieht es frühzeitig.

Umstellung einer oralen Gabe auf ein Depot

Bevor man ein Neuroleptikum als Depot gibt, muss man sicherstellen, dass dessen Wirkstoff auch vertragen wird. Es wäre fatal, wenn man eine Substanz als Depot verabreicht, und diese dann starke EPMS, starke Akathisie oder eine andere Nebenwirkung verursacht, denn diese Nebenwirkung würde ja wochenlang bestehen bleiben. Daher muss der Wirkstoff zuerst immer in kurzwirksamer Form, also in der Regel als Tablette gegeben werden. Bei guter Verträglichkeit kann dann auf ein Depot umgestellt werden.

Allerdings führt die erste Gabe bei den meisten Depotpräparaten eben gerade noch nicht zu einem ausreichenden Blutspiegel. Nur Risperidon ISM (OKEDI®) hat eine Pharmakodynamik, die direkt nach der ersten Gabe ausreichende Blutspiegel erzeugt. Bei den anderen Präparaten gibt man eine loading-dose wie bei Xeplion® oder gibt über zwei bis drei Depotintervalle parallel den gleichen Wirkstoff noch in Tablettenform dazu.

Dann stellt sich die Frage nach der Umrechnung einer bisherigen oralen Dosis in eine Depotdosis. Es gibt keine einfache Formel, um die oral gegebene Dosis eines Neuroleptikums in eine Depotdosis umzurechnen. Zur Orientierung habe ich aus den Fachinformationen und teilweise aus meiner klinischen Erfahrung in Tabelle 4.3. vergleichbare orale Dosierungen und Depot-Dosierungen aufgeführt. Im Einzelfall können andere Dosierungen erforderlich sein. Der Tabelle ist auch zu entnehmen, in welchen Dosierungen das jeweilige Depot vorliegt und in welchen Intervallen es zu geben ist.

Dosis in Worten Dosis in Tablettenform Depotdosis
Haloperidol (z.B. Haldol®)
niedrig 2-0-2 mg 40 mg alle 4 Wochen
mittel 4-0-4 mg 80 mg alle 4 Wochen
hoch 6-0-6 mg 120 mg alle 4 Wochen
Flupentixol (z.B. Fluanxol®)
niedrig 4-0-0 mg 20 mg alle 2 Wochen
mittel 10-0-0 mg 50 mg alle 2 Wochen
hoch 10-10-0 mg 100 mg alle 2 Wochen
Fluphenazin (z.B. Lyogen®)
niedrig 2-0-3 mg 25 mg alle 2 Wochen
mittel 5-0-5 mg 50 mg alle 2 Wochen
hoch 10-0-10 mg 100 mg alle 2 Wochen
Risperidon mit 2-wöchiger Gabe (z.B. Risperdal Consta®)
niedrig 0-0-2,5 mg 25 mg alle 2 Wochen
mittel 0-0-4 mg 37,5 mg alle 2 Wochen
hoch 0-0-5 mg 50 mg alle 2 Wochen
Paliperidon mit 4-wöchiger Gabe (Xeplion®)
Xeplion-Einstellung auf jede Dosis immer so beginnen: Tag 1: 150 mg deltoidal, Tag 8: 100 mg deltoidal, danach:
niedrig 3–0–0 mg 50 mg alle 4 Wochen
mittel 6-0-0 mg 75 mg alle 4 Wochen
hoch 6-0-3 mg 100 mg alle 4 Wochen
Paliperidon mit 12-wöchiger Gabe (z.B. TREVICTA®)
Nach viermonatiger Gabe von Xeplion® soll auf die 3,5 fache Dosis TREVICTA® umgestellt werden.
niedrig 50 mg Xeplion® alle vier Wochen 175 mg TREVICTA® mg alle 12 Wochen
mittel 75 mg Xeplion® alle vier Wochen 263 mg TREVICTA® mg alle 12 Wochen
hoch 100 mg Xeplion® alle vier Wochen 350 mg TREVICTA® mg alle 12 Wochen
sehr hoch 150 mg Xeplion® alle vier Wochen 525 mg TREVICTA® mg alle 12 Wochen
Risperidon ISM (z.B. OKEDI®)
OKEDI® kann gegeben werden, wenn sichergestellt ist, dass Risperidon vertragen wird. Es baut den Wirkstoffspiegel direkt mit der ersten Depot-Gabe auf.
niedrig 3-0-0 mg 75 mg alle 4 Wochen
mittel 4-0-0 mg 100 mg alle 4 Wochen
Aripiprazol (z.B. Abilify Maintena®)
mittel 15-0-0 mg 300 mg alle 4 Wochen
hoch 20-0-0 mg 400 mg alle 4 Wochen
Olanzapin (z.B. ZypAdhera®)
niedrig 0-0-10 mg 210 mg alle 2 Wochen oder 405 mg alle 4 Wochen für 8 Wochen. Danach 150 mg alle 2 Wochen oder 300 mg alle 4 Wochen.
mittel 0-0-15 mg 300 mg alle 2 Wochen für 8 Wochen. Danach 210 mg alle 2 Wochen oder 405 mg alle 4 Wochen.
hoch 0-0-20 mg 300 mg alle 2 Wochen.
Tabelle 4.3 Depot-Neuroleptika

Copyright

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

Neues Video online: Jan zu Gast bei Geschichten aus der Psychiatrie

Diesmal bin ich zu Gast im YouTube-Kanal „Geschichten aus der Psychiatrie“. Zusammen mit Cajetan Hartfiel sprechen wir hauptsächlich über Psychopharmakotherapie, aber auch über dies und jenes anderes aus der Psychiatrie.

Wenn ihr seinen Kanal noch nicht abonniert habt, tut das gleich jetzt und hier: https://youtube.com/channel/UC2YYgkj3IH5wX1xRm8j05Og

Neues Video: PSSD: Post SSRI Sexual Dysfunction

Das Video findest Du hier.

In diesem Video spreche ich mit Sandra, der Vorsitzenden der PSSD Hilfe Deutschland e. V. über PSSD. Was ist das eigentlich? Woher kommt das? Wie stelle ich PSSD fest? Gibt es Behandlungsmöglichkeiten? Gibt es Hilfe? Die Webseite der PSSD Hilfe Deutschland e. V findet ihr hier: www.pssd-hilfe.de.

PC129 Get Happy Podcast mit Kathie Kleff

Im Oktober 2021 war ja schon Alex zu Gast im Get Happy Podcast, dem Achtsamkeitspodcast von Antenne Bayern mit Kathie Kleff. Jetzt habe ich mit ihr eine Folge zum Thema stationäre Behandlungen in der Psychiatrie aufgenommen. In ihrem sehr charmanten und lockeren Interviewstil erkunden wir die unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten der psychiatrischen Behandlungen und räumen hoffentlich einige Mythen und Fehlannahmen aus dem Weg.

Die Folge findet ihr hier.
Viel Spaß beim Zuhören!

Schlafmittel

Auch in diesem Beitrag teile ich den Entwurf eines Kapitels, das nach eurem Feedback und weiteren redaktionellen Schleifen irgendwann vielleicht Ende nächsten Jahres in die dann geplante nächste Auflage meines Buches kommen soll. Also: Änderungsvorschläge, Korrekturen und andere Anmerkungen bitte gerne in die Kommentare!

Ich habe auch ein Video zu diesem Thema gedreht, das findet ihr hier.

Schlafstörungen sind weitverbreitet, und die Vorstellung, ein Schlafmittel könne hier gut Abhilfe schaffen, ist bei Patienten und Behandlern gleichermaßen beliebt. Aber so einfach ist es aus mehreren Gründen nicht:

  • Es ist wichtig, die Ursache der Schlafstörung möglichst genau zu klären und spezifisch zu behandeln.
  • Viele Schlafmittel stellen nicht den gesunden Schlaf mit allen seinen Schlafphasen wieder her, der eigentlich notwendig ist, um erholsam zu sein.
  • Die meisten Schlafmittel wirken nur eine kurze Zeit und verlieren bereits nach wenigen Wochen an Wirkung.
  • Viele der beliebten Schlafmittel machen abhängig und unterhalten nach einiger Zeit selbst die Schlafstörung, jedenfalls, wenn man versucht, sie abzusetzen.

Dennoch gibt es Situationen, in denen ein Schlafmittel sinnvoll sein kann. Es gibt sehr unterschiedliche Schlafmittel. Gemeinsam ist ihnen, dass es sedierende Substanzen sind, die in der Absicht gegeben werden, den Schlaf zu verbessern. In diesem Kapitel stelle ich zunächst einen aus meiner Sicht sinnvollen Eskalationsplan dar und anschließend in dieser Reihenfolge die Pharmaka mit ihren jeweiligen Eigenschaften.

7.1 Eskalationsplan Schlafstörungen

Die Leitlinie Schlafstörungen1 empfiehlt im ersten Schritt kognitive Verhaltenstherapie. Und das ist natürlich auch richtig so. Wenn das nicht reicht, stehen eine Reihe von Medikamenten zur Auswahl, die sich sehr stark in ihrer Wirksamkeit, aber auch in Bezug auf ihre Nebenwirkungen unterscheiden.

Es ist in aller Regel nicht sinnvoll, bei einfachen Schlafstörungen gleich ein Schlafmittel mit Abhängigkeitspotential zu geben. Ein gestuftes Vorgehen ist hier sinnvoll, und oft reichen Maßnahmen der guten Schlafhygiene und ein pflanzliches Schlafmittel, um einen ausreichend guten Effekt zu erzielen. Viele Patienten, gerade ältere, darf man auch darüber aufklären, was an Schlaf realistisch ist. Für einen 80-Jährigen können sechs Stunden Schlaf mit zwei längeren Unterbrechungen in der Nacht völlig normal sein. Wenn der Patient sich am nächsten Morgen im Wesentlichen ausgeschlafen fühlt, ist die subjektiv wahrgenommene Schlafqualität allein kein guter Indikator für eine immer weitere Steigerung der Medikation. Andererseits kann es bei einem manischen Patienten, der nur zwei Stunden in der Nacht schläft, sinnvoll sein, gleich zu Beginn ein hoch dosiertes Benzodiazepin, ein niederpotentes Neuroleptikum, ein Phasenprophylaktikum und ein hochpotentes Neuroleptikum zu kombinieren. An welcher Stelle in so einem Eskalationsplan Melatonin, Antihistaminika, Antidepressiva und niederpotente Neuroleptika stehen, wird sehr unterschiedlich bewertet. Manche Ärzte setzen diese Substanzen gar nicht ein, andere verwenden zumindest einzelne Substanzen aus diesen Gruppen gerne und erfolgreich. Ich habe aus jeder Gruppe zumindest eine Substanz beispielhaft dargestellt, damit Sie sich einen besseren Eindruck von den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Optionen machen können.

Ich persönlich orientiere mich an diesem Eskalationsplan:

  1. Gute Schlafhygiene
  2. Pflanzliche Schlafmittel
  3. Melatonin-Agonisten
  4. Antihistaminika
  5. Antidepressiva
  6. Niederpotente Neuroleptika
  7. Z-Substanzen
  8. Benzodiazepine

7.2 Gute Schlafhygiene

Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Patienten, die über Schlafstörungen klagen, angeben, dass sie fünf Tassen Kaffee am Tag trinken, die letzte davon nach dem Abendessen. Auf Nachfrage wird dann oft berichtet, dass Kaffee bei ihnen den Schlaf nicht störe. Ich lasse solche Einschätzungen nicht gelten und fordere alle Patienten mit Schlafstörungen auf, nicht mehr als zwei Tassen Kaffee am Tag zu trinken und die letzte nicht nach 15:00. Auch andere koffeinhaltige Getränke frage ich ab.

Als Nächstes klappere ich die Schlafhygiene ab: Kühles, ruhiges, aufgeräumtes Zimmer; gleichbleibende Zeit, abends zur Ruhe zu kommen, im Bett nur Schlafen und Sex, die Klassiker.

Und wirklich wichtig ist natürlich die Diagnostik zugrunde liegender Erkrankungen, die die Schlafstörung verursachen können. Insbesondere bei adipösen Patienten ist die Schlafapnoe häufig. Schilddrüsenüberfunktionen können den Schlaf stören, wie auch eine Reihe anderer internistischer Erkrankungen. Ich vermittele gerne in ein Schlaflabor, und nicht selten findet sich eine Schlafapnoe oder ein Restless-Legs-Syndrom, die ursächlich behandelt werden können und müssen.

7.3 Pflanzliche Schlafmittel

Rezeptfreie Schlafmittel gibt es reichlich, oft basierend auf Baldrian-, Hopfen- oder Lavendelextrakten. Die Einnahme eines pflanzlichen Schlafmittels kann zum einen Teil eines Schlafrituals sein und zum zweiten einen erwünschten Placebo-Effekt haben. Vermitteln diese Substanzen aber auch einen pharmakologischen Effekt? Wirken sie an bestimmten Rezeptoren sedierend? Zumindest für Baldrian gibt es Hinweise darauf, dass die darin enthaltenen Sesquiterpene einen aktivierenden Effekt auf die GABA-Rezeptoren haben, und das könnte gut ihre sedierende Wirkung erklären23.

Ich selbst verwende aus der Gruppe der pflanzlichen Schlafmittel nur Baldrian in einer Dosis von mehr als 500 mg pro Kapsel. Dies halte ich für milde wirksam und setze es sowohl gegen Schlafstörungen als auch vereinzelt gegen Unruhezustände tagsüber ein. Baldrian macht nicht abhängig und stört die Schlafphasen nicht. Es kann ohne großen Wirkverlust auch längerfristig eingesetzt werden, dann nach Möglichkeit eher bei Bedarf als regelmäßig.

Mindestens ein Drittel meiner Patienten mit Schlafstörungen kommen mit einer Kombination aus guter Schlafhygiene und Baldrianextrakt 1–2 Kapseln zu je 650 mg zur Nacht gut zurecht und benötigen kein nebenwirkungsreicheres Schlafmittel.

7.4 Melatonin

Das Hormon Melatonin ist ein wichtiger Baustein in der Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Es wird in der Nacht vermehrt produziert und hat sein Blutspiegelmaximum etwa gegen 3:00 morgens. Tageslicht bremst die Produktion, es gibt auch Abhängigkeiten vom Alter des Patienten und von der Jahreszeit.

Schon länger wird es bei jet-lag und bei durch Schichtarbeit bedingten Schlafstörungen eingesetzt. Seit einigen Jahren wird es vermehrt gegen die normale Schlafstörung eingesetzt.

In einer großen Meta-Analyse aus dem Jahr 20174 zeigt sich ein signifikanter Effekt auf Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Allerdings sind die Ausmaße der Verbesserungen klein, im Mittel sei die Einschlafzeit um 5–10 Minuten verkürzt.

Melatonin ist in einer Dosis von 2 mg zugelassen zur Behandlung von Patienten ab dem 55 Lebensjahr, die an einer primären Insomnie leiden. In dieser Dosis ist es verschreibungspflichtig. Man verordnet 2 mg eine Stunde vor dem Schlafengehen über 13 Wochen.

In niedrigeren Dosierungen wird Melatonin ist in Deutschland rezeptfrei vertrieben, es wird dann als Nahrungsergänzungsmittel klassifiziert. Ob sich diese rechtliche Einordnung halten lässt, ist noch unklar. Der Nutzen in dieser Dosierung ist ebenso umstritten.

Eine Ausnahme von der sonst eher geringen Wirksamkeit besteht bei vollständig blinden Menschen, hier ist Melatonin offenbar sehr hilfreich in der Bekämpfung von Schlafstörungen. Einsatz findet hier ein Melatonin-Rezetor-Agonist Tasimelteon als Orphan Drug.

Das primär als Antidepressivum eingesetzte Agomelatin (s. Kapitel 3.6.8) ist ebenfalls ein Melatoninrezeptoragonist und ist dafür bekannt, besonders gut gegen Schlafstörungen zu wirken.

7.5 Antihistaminika

Antihistaminika finden aufgrund ihrer sedierenden Wirkung schon seit Jahrzehnten als Schlafmittel Verwendung. Sie sind teilweise rezeptfrei und werden so als Schlafmittel vertrieben. Die sedierende Wirkung ist oft recht zuverlässig und hält über eine längere Behandlungsdauer an. Ein häufig verschriebene Wirkstoff von mehreren ist das Doxylamin.

7.5.1 Doxylamin

  • ist ein Antihistaminikum mit zusätzlichen anticholinergen Eigenschaften.
  • ist ein häufig zu findender Wirkstoff rezeptfreier Schlafmittel.
  • macht nicht abhängig.
  • kann mit anderen Sedativa, insbesondere aber mit MAO-Hemmern, problematische Wechselwirkungen verursachen.

Doxylamin wird in niedrigen Dosierungen oft gut vertragen. Es ist jedoch zu bedenken, dass es aufgrund seiner anticholinergen Wirkung gerade bei älteren Patienten zu Stürzen und Verwirrtheitszuständen führen kann. Auch kann ein morgendlicher Überhang mit fortbestehender Gangstörung auftreten.

Pharmakologie

Doxylamin ist ein H1-Rezeptor-Antagonist. Durch Hemmung der Entzündungsmediator-Funktion des Histamins wirkt Doxylamin als Antiallergikum. Im Zentralnervensystem wirkt Doxylamin darüber hinaus sedierend und antiemetisch. Es hat auch ausgeprägte anticholinerge Wirkungen.

Klinischer Einsatz

Doxylamin wird wie viele Antihistaminika sowohl als Schlafmittel als auch als Antiallergikum eingesetzt. Ferner wird Doxylamin gegen Schwangerschaftsübelkeit verabreicht, da es keine Hinweise auf eine teratogene Wirkung gibt.

Dosierung

  • zur Nacht: 25–50 mg

Nebenwirkungen

Doxylamin kann zusammen mit anderen Sedativa einen überadditiven Effekt haben. Die Kombination mit MAO-Hemmern ist kontraindiziert. Es kann zu anticholinergen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit oder Akkommodationsstörungen kommen.

Mein persönliches Fazit

In der ambulanten Verschreibungspraxis und im stationären Alltag wird auf die Klage „Schlafstörung“ oft reflexartig eine Z-Substanz oder ein Benzodiazepin verordnet. Dabei ist ein Therapieversuch mit einer nicht abhängigkeitserzeugenden Substanz in vielen Fällen erfolgreich. Doxylamin wirkt meist verlässlich sedierend und kann über eine etwas längere Zeit eingesetzt werden.

7.6 Antidepressiva

Auch viele ältere Antidepressiva haben anticholinerge und antihistaminerge Nebenwirkungen. Daher kann man auch diese als Schlafmittel einsetzen. Die verwendeten Dosierungen sind dabei so niedrig, dass eine relevante antidepressive Wirkung nicht entsteht. Ein Beispiel von mehreren ist Trimipramin.

7.6.1 Trimipramin

  • wirkt – vermittelt über anticholinerge und antihistaminerge Wirkungen mehrere Stunden stark sedierend.
  • wirkt über eine Blockade der 5-HT2 -Rezeptoren schlafanstoßend.
  • verursacht keine REM-Schlaf-Störungen.
  • verursacht keine Abhängigkeit und behält auch bei längerer Gabe seine Wirkung.
  • wird daher überwiegend als Schlafmittel eingesetzt.
  • wirkt nur schwach antidepressiv, da es anders als andere trizyklische Antidepressiva fast keine Serotonin- oder Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung bewirkt.

Trimipramin ist ein altes Antidepressivum, das aktuell fast nur noch aufgrund seiner sedierenden Eigenschaft als Schlafmittel zum Einsatz kommt. In dieser Indikation hat es eine recht verlässliche Wirkung und kann auch über eine etwas längere Zeit gegeben werden.

Pharmakologie

Trimipramin hat eine ausgeprägte anticholinerge und antihistaminerge Wirkkomponente, was die stark sedierende Wirkung erklärt. Es blockiert den 5-HT2 -Rezeptor, was eine schlafinduzierende Wirkung haben soll.

Anders als andere trizyklische Antidepressiva verursacht Trimipramin praktisch keine Serotonin- oder Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung. Aufgrund dieses ungewöhnlichen Rezeptorprofils wird es als „atypisches Antidepressivum“ bezeichnet.

Klinischer Einsatz

Trimipramin ist zugelassen zur Behandlung von Depressionen mit den Leitsymptomen Schlafstörung, Angststörung und innere Unruhe. Die hohen Dosierungen, die zur Behandlung von Depressionen nötig wären (100–400 mg/Tag), werden aber zumeist aufgrund von Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit und Müdigkeit nicht vertragen.

Trimipramin spielt deshalb eher in der Therapie der Schlafstörungen eine Rolle. Der 5-HT2 -Rezeptor-Blockade wird eine schlafanstoßende Wirkung zugeschrieben, die anticholinerge und antihistaminerge Komponente verursacht eine mehrere Stunden anhaltende Sedierung. Daher wirkt Trimipramin schon in verträglicheren Dosierungen zwischen 25 und 75 mg gegen Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Es macht nicht abhängig und verändert nicht den REM-Schlaf, sodass es auch langfristig verordnet werden kann.

Auch bei chronischen Schmerzstörungen wird Trimipramin erfolgreich eingesetzt.

Dosierung

  • als Schlafmittel: 25–75 mg/Tag zur Nacht
  • als Antidepressivum: 100–300 mg/Tag (zugelassen bis 400 mg) mit abendlichem Schwerpunkt
  • bei chronischen Schmerzen: 50–150/Tag mg zur Nacht
  • Dosisänderungen bei Eindosierung und Abdosierung in 25- bis 50-mg-Schritten vornehmen

Nebenwirkungen

Trimipramin ist relativ nebenwirkungsreich. Es verursacht anticholinerge und antihistaminerge Nebenwirkungen wie Sedierung, Mundtrockenheit, Hypotonie, Akkommodationsstörungen, Miktionsstörungen, Gewichtszunahme und manchmal Blutbildveränderungen. Abruptes Absetzen kann cholinerge Nebenwirkungen bis hin zum Delir verursachen, daher sollten das Absetzen und die Eindosierung jeweils in kleinen Schritten von 25 bis 50 mg/Tag erfolgen.

Mein persönliches Fazit

Als Antidepressivum ist Trimipramin aufgrund seiner kaum vorhandenen Serotonin-Wiederaufnahmehemmung nicht gut geeignet. Es hat seinen Platz in der Behandlung von Schlafstörungen, da es nicht abhängig macht, den REM-Schlaf nicht stört und über lange Zeit eine gute Wirkung behält. Allerdings kann es insbesondere bei höheren Dosierungen schnell eine Vielzahl von Nebenwirkungen verursachen, die engmaschig überprüft werden müssen.

7.7 Niederpotente Neuroleptika

Und auch niedrigpotente Neuroleptika haben oft sedierende Nebenwirkungen. Daher kann man auch diese Substanzgruppe gegen Schlafstörungen einsetzen. Gerade hier muss man aber bedenken, dass die Hauptwirkung eine Blockade des Dopaminstoffwechsels ist, die mit vielen Nebenwirkungen wie EPMS, Antriebsstörungen oder Lustlosigkeit einhergehen können.

Häufig verwendet werden Promethazin, Dipiperon, Melperon und andere. Die Charakterisierung von Promethazin findet sich im Kapitel Sedativa im Abschnitt 4.4.1 Promethazin.

7.8 Die Z-Substanzen

Mit Zopiclon und Zolpidem kamen Anfang der 1990er-Jahre zwei Substanzen auf den Markt, die als „nahezu ideale Schlafmittel“ beworben wurden. Es wurde behauptet, dass sie in niedriger Dosis die Schlafarchitektur nicht stören (Benzodiazepine verändern die Schlafphasen und den REM-Schlaf), dass sie nicht abhängig machen und dass sie gut verträglich sind.

Pharmakologisch sind die „Z-Substanzen“ Modulatoren am gleichen GABA-Rezeptor, an dem auch die Benzodiazepine wirken. Inzwischen herrscht weitgehender Konsens, dass Wirkungen, Nebenwirkungen und Abhängigkeitspotenzial der Z-Substanzen im Wesentlichen denen der Benzodiazepine entsprechen, wenngleich milder ausgeprägt.

7.8.1 Zopiclon

  • ist ebenso wie Zolpidem ein Modulator am GABA-Rezeptor.
  • hat mit 4–6 Stunden eine längere Halbwertszeit.
  • wird in der Regel mit 7,5 mg zur Nacht dosiert.
  • kann typischerweise einen metallisch-bitteren Geschmack verursachen.

Da Zopiclon eine etwas längere Halbwertszeit als Zolpidem hat, wird es nicht nur bei Einschlaf-, sondern auch bei Durchschlafstörungen gegeben. Es ist das etwas stärkere Medikament.

Pharmakologie

Zopiclon gehört genau wie Zolpidem nicht zu den Benzodiazepinen, wirkt aber am gleichen GABA-Rezeptor und zeigt daher das gleiche Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil. Es hat eine Halbwertszeit von 4 bis 6 Stunden, im Alter und bei reduzierter Metabolisierungsgeschwindigkeit auch von 8 Stunden.

Klinischer Einsatz

Zopiclon wird gegen Ein- und Durchschlafstörungen verordnet.

Dosierung

  • Standarddosis zur Nacht: 7,5 mg
  • empfohlener Einnahmezeitpunkt: eine halbe Stunde vor dem gewünschten Einschlafzeitpunkt, da Zopiclon rasch aus dem Dünndarm resorbiert wird

Nebenwirkungen

Typisch für Zopiclon ist ein metallisch-bitterer Geschmack, der in einigen Fällen nach längerer Anwendung abnehmen soll.

Zopiclon zeigt dieselben Nebenwirkungen wie die Benzodiazepine. Dies sind insbesondere die Gefahren der Toleranzentwicklung und der Abhängigkeit. Bereits nach wenigen Wochen kann die Beendigung der Medikation zu Absetzschlaflosigkeit, Angst, Unruhe und Getriebenheit führen.

Mein persönliches Fazit

Zopiclon ist aufgrund seiner längeren Halbwertszeit gut gegen Ein- und Durchschlafstörungen wirksam und wird ebenso wie Zolpidem zumeist gut vertragen. Auch hier sollte man eine Verordnungsdauer von 4 bis 6 Wochen in der Regel nicht überschreiten.

7.8.2 Zolpidem

  • ist ein Modulator am GABA-Rezeptor, an dem auch die Benzodiazepine wirken.
  • hat mit 2–3 Stunden eine eher kurze Halbwertszeit, sodass es gut gegen Einschlafstörungen verwendet werden kann.

Zolpidem gehört zu den in Europa und Nordamerika am häufigsten verordneten Schlafmitteln.

Pharmakologie

Zolpidem wirkt am gleichen inhibierenden GABA-Rezeptor wie die Benzodiazepine, ist jedoch chemisch kein Benzodiazepin. Für die Wirkung und Nebenwirkungen dieser Substanz spielt das aber keine Rolle. In niedriger Dosis wirkt es etwas schwächer am GABA-Rezeptor als ein höher dosiertes Benzodiazepin.

Die Halbwertszeit beträgt 2–3 Stunden, ist also relativ kurz.

Klinischer Einsatz

Zolpidem eignet sich gut für Einschlafstörungen, etwas weniger gut auch für Durchschlafstörungen.

Männer und Frauen unterscheiden sich in Bezug auf ihre Fähigkeit, Zolpidem zu metabolisieren (FDA Safety Information Zolpidem)5. Die FDA empfiehlt daher für Frauen eine Dosis von 5 mg, da bei Frauen mit einer Dosis von 10 mg morgens noch Beeinträchtigungen wie Fahruntüchtigkeit bestehen können.

Dosierung

  • Männer: 10 mg zur Nacht
  • Frauen: 5 mg zur Nacht

Nebenwirkungen

Schlafmittel werden in ihren Nebenwirkungen chronisch unterschätzt. Oft werden sie als vergleichsweise harmlos eingeschätzt. Das stimmt nicht. Obwohl immer wieder angegeben wird, dass das Abhängigkeitspotenzial von Zolpidem niedriger sei als das der Benzodiazepine, gelten hier die gleichen Bedenken: Eine längere Gabe von Zolpidem kann sehr wohl zur Abhängigkeit führen.

Die Substanz sollte daher nur bei einem nachvollziehbaren Grund gegeben werden und in der Regel nicht länger als 4–6 Wochen verschrieben werden. Dauerverschreibungen sind im Normalfall nicht sinnvoll. Das Absetzen nach längerer Verordnung kann zu Entzugsbeschwerden über längere Zeit führen, etwa zu Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Unruhe.

Alle Schlafmittel können morgens noch eine Nachwirkung, einen Overhang, haben und trotz des subjektiven Gefühls völliger Wachheit Beeinträchtigungen verursachen, etwa beim Autofahren.

Mein persönliches Fazit

Zolpidem wird gut vertragen und hilft wirksam gegen Einschlafstörungen. Eine kurzzeitige Verordnung kann in bestimmten Situationen absolut sinnvoll sein. Eine dauerhafte Verschreibung birgt allerdings die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung in sich und sollte vermieden werden.

7.9 Benzodiazepine

Bei akuten ausgeprägten Schlafstörungen, beispielsweise bei einer Manie oder einer zeitlich begrenzten Ausnahmesituation können Benzodiazepine verlässlich als Schlafmittel eingesetzt werden. Die Toleranzentwicklung beginnt allerdings schon nach wenigen Wochen, sodass eine Behandlung von mehr als 6 Wochen nicht zu empfehlen ist. Die Wirkung lässt dann üblicherweise auch nach. Viele Patienten nehmen ihr Benzodiazepinschlafmittel nur deshalb über viele Jahre lang ein, weil sie bei jedem Absetzversuch Entzugssymptome verspüren und dies fälschlicherweise als Zeichen dafür werten, dass sie das Schlafmittel noch benötigen.

Oft werden Benzodiazepine mit einer Halbwertszeit von ca. 8 Stunden als Benzodiazepin-Schlafmittel eingesetzt, z. B. Oxazepam. Man darf aber nicht vergessen, dass es die gleichen Nebenwirkungen und insbesondere das gleiche Abhängigkeitspotential hat wie jedes andere Benzodiazepin.

7.9.1 Oxazepam

  • erreicht erst ca. 1–3 Stunden nach Einnahme seinen wirksamen Plasmaspiegel
  • hat eine Wirkdauer von ca. 8 Stunden
  • ist ein Metabolit des Diazepams und teilt mit diesem alle Vor- und Nachteile der Benzodiazepine

Pharmakologie

Oxazepam ist ein direkter Metabolit des Diazepams. Er wird eher langsam resorbiert, ein wirksamer Plasmaspiegel wird erst nach 1–3 Stunden erreicht.

Die Halbwertszeit ist interindividuell sehr unterschiedlich und kann zwischen 5 und 15 Stunden liegen.

Der Abbau erfolgt unabhängig von CYP-P450 System, sodass Medikamenteninteraktionen in diesem Bereich keine Rolle spielen.

Klinischer Einsatz

Oxazepam wird überwiegend als Schlafmittel eingesetzt. Auch in Kankenhäusern und Altenheimen ist es recht beliebt.

Dosierung

  • Die übliche Dosis beträgt 10 mg zur Nacht.
  • Ältere und geschwächte Patienten sollten zunächst 5 mg erhalten.
  • Bei unzureichender Wirkung ist eine Dosissteigerung auf 20–30 mg möglich.

Nebenwirkungen

Oxazepam hat die den Benzodiazepinen eigenen Nebenwirkungen. Beim Einsatz als Schlafmittel sind hier insbesondere zu bedenken:

  • bei älteren Patienten kann es eine Gangunsicherheit verursachen und damit Stürze begünstigen
  • morgendlichen Overhang
  • Innerhalb von 4 bis 6 Wochen Entwicklung einer Toleranz, später Abhängigkeit.

Mein persönliches Fazit

Für den kurzfristigen Einsatz zum Beispiel als Prämedikation vor einer OP ist Oxazepam gut geeignet, eine Dauermedikation sollte es aber nicht werden.

Copyright

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

  1. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/063-003.html (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/063-003.html)
  2. Ortiz JG, Nieves-Natal J, Chavez P. Effects of Valeriana officinalis extracts on 3H flunitrazepam binding, synaptosomal 3H GABA uptake, and hippocampal 3H GABA release. Neurochemical research. 1999; 24:1373-1378. https://link.springer.com/article/10.1023/A:1022576405534
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Baldriane
  4. Auld F, Maschauer EL, Morrison I, Skene DJ, Riha RL. Evidence for the efficacy of melatonin in the treatment of primary adult sleep disorders. Sleep Med Rev. 2017; 34:10-22. DOI: 10.1016/j.smrv.2016.06.005. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28648359
  5. U.S. Food & Drug Administration. FDA Drug Safety Communication: FDA approves new label changes and dosing for zolpidem products and a recommendation to avoid driving the day after using Ambien CR (14.05.2013). Im Internet: https://wayback.archive-it.org/7993/ 20170406043943/https://www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm352085.htm; Stand: 09.02.2020

Alles, was Du über Escitalopram und Citalopram wissen möchtest

Diesen Text habe ich auch als Video aufgezeichnet, das findest du hier.

Ich habe das Kapitel für die nächste Auflage des Buches (die aber nicht vor 2023 kommen wird) überarbeitet, besser lesbar gemacht und übersichtlicher gestaltet. Wie es gute alte Tradition ist, veröffentliche ich hier den Textentwurf (dieser Text steht daher ausnahmsweise unter Copyright). Ich bitte Euch, mir Rückmeldung zum Text zu geben, auf Fehler oder Unvollständigkeiten hinzuweisen und mir zu sagen, wie ich es verständlicher beschreiben könnte.

Ansonsten: viel Spaß mit diesem Kapitel zu Escitalopram / Citalopram!

3.6.2 Escitalopram und Citalopram

  • Citalopram ist seit den 90er-Jahren auf dem Markt. Sein wirksamer Bestandteil ist das Escitalopram, das inzwischen zunehmend häufiger eingesetzt wird.
  • beide sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI).
  • werden eingesetzt gegen Angsterkrankungen, Depressionen und Zwangserkrankungen.
  • sind zumeist gut verträglich.
  • Allerdings müssen bei beiden regelmäßig EKG-Kontrollen durchgeführt werden, weil beide die QTc-Zeit verlängern können.
  • 10 mg Escitalopram entsprechen in ihrer Wirkung zumindest 20 mg Citalopram, aus bestimmten Gründen vielleicht sogar 30 bis 40 mg Citalopram.
  • Escitalopram ist genauso wirksam und im Zweifel nebenwirkungsärmer, daher gibt es keinen triftigen Grund mehr, Citalopram zu verordnen.

Seit den 90er-Jahren ist Citalopram eines der am häufigsten verschriebenen Psychopharmaka. Das liegt unter anderem daran, dass Depressionen und Angststörungen sehr häufig sind, und dass Citalopram meist gut verträglich und wirkstark ist. Mit Escitalopram steht nun auch das wirksame Enantiomer des Citaloprams zur Verfügung, das möglicherweise sogar weniger Nebenwirkungen hat. Deswegen ist es für viele Psychiater das Antidepressivum der ersten Wahl geworden, vor Citalopram.

In diesem Kapitel beschreibe ich beide Substanzen zusammen, und weise auf Unterschiede hin, wenn sie von Bedeutung sind. Das betrifft insbesondere die Dosierung: 10 mg Escitalopram entsprechen 20 – 40 mg Citalopram. Auch die Nebenwirkungen können sich unterscheiden: Citalopram gilt als etwas nebenwirkungsreicher, weil auch das nicht wirksame R-Enantiomer Nebenwirkungen verursachen kann.

Pharmakologie

Was sind Enantiomere?

Citalopram besteht aus zwei Enantiomeren. Enantiomere verhalten sich wie die linke Hand zur rechten Hand. Wenn man seine linke Hand auf die rechte Hand legt, sieht man, dass diese nicht deckungsgleich sind. Der Daumen der linken Hand liegt über dem kleinen Finger der rechten Hand und der kleine Finger der linken Hand liegt über dem Daumen der rechten Hand. Die beiden Hände sind spiegelbildlich. Genau so kommen die meisten Moleküle in der Natur vor. Häufig hat nur eine der beiden Molekülvarianten eine chemische Wirkung. Stellen Sie sich einen Rezeptor diesbezüglich wie einen Handschuh vor. In einen linken Handschuh passt auch nur eine linke Hand. Genauso verhält es sich mit den beiden Molekülen, die im Citalopram enthalten sind. Citalopram ist eine Mischung aus gleichen Teilen S-Citalopram und R-Citalopram. Das wirksame Enantiomer ist das S-Citalopram, kurz genannt Escitalopram. Nur dieses entfaltet die gewünschten Wirkungen. In 20 mg Citalopram sind 10 mg S-Citalopram (= Escitalopram) und 10 mg des wirkungslosen R-Citalopram enthalten. Daher entsprechen 10 mg Escitalopram zumindest 20 mg Citalopram. Da das nicht-wirksame R-Enantiomer des Citaloprams aber vielleicht Wirkungen des L-Enantiomers blockiert, sehen viele die Äquivalenzdosis sogar höher, so könnten 10 mg Escitalopram auch 30 – 40 mg Citalopram entsprechen. Und da das nicht-wirksame R-Enantiomer des Citaloprams im Verdacht steht, sehr wohl zu den Nebenwirkungen beizutragen, gilt Citalopram als nebenwirkungsreicher als Escitalopram.

Pharmakodynamik

Escitalopram und Citalopram sind reine selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie haben praktisch keine Wirkung auf den Noradrenalin-Stoffwechsel und auf andere Rezeptoren. Daher verursachen sie typischerweise keine Müdigkeit oder Gewichtszunahme.

Pharmakokinetik

Beide Substanzen werden in der Leber hauptsächlich vom Cytochrom P450-2C19 in weitere wirksame Metabolite umgewandelt, die dann über die Niere ausgeschieden werden. Die Halbwertszeit von Escitalopram liegt bei ca. 30 Stunden, die des Citaloprams bei ca. 36 Stunden. Beide haben wirksame Metabolite mit teilweise deutlich längeren Halbwertzeiten.

Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln

In Kombination mit anderen serotonergen Substanzen wie MAO-Hemmern, Opioiden u. a. kann ein Serotonin-Syndrom (siehe Kapitel 3.7.1) auftreten. Ansonsten sind Wechselwirkungen selten.

Klinischer Einsatz

Depressionen

Bei leichtgradigen depressiven Episoden, die nicht im Rahmen einer rezidivierenden Depression auftreten, sondern eher als psychoreaktiv eingestuft werden, ist die Therapie der ersten Wahl die Psychotherapie. In dieser Indikation überwiegen die möglichen Nachteile einer Pharmakotherapie oft den realistischerweise erwartbaren Nutzen, und die Leitlinienempfehlung sowie der Stand der Wissenschaft unterstützen ein zurückhaltendes Vorgehen in diesen Fällen.

Bei mittelgradigen und schweren depressiven Episoden empfiehlt sich in der Regel eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie.

In dieser Indikation beobachtet man oft nach ca. 2 Wochen eine Verbesserung des Antriebs, in dieser Phase können andererseits in einigen Fällen vermehrt Suizidgedanken auftreten. Nach vier bis sechs Wochen tritt oft auch die Verbesserung der Stimmungslage ein, der Antrieb normalisiert sich und gegebenenfalls begleitend vorhandene Angstsymptome klingen ab.

Nach einmaliger depressiver Episode sollte man spätestens sechs Monate nach Ende der Episode eine Dosisreduktion und das Absetzen erwägen. In diesen Fällen gibt es in den letzten Jahren einen Trend zu eher zu langen Erhaltungstherapien.

Bei rezidivierenden Depressionen können Erhaltungstherapien von mehreren Monaten und wenigen Jahren sinnvoll sein, in schweren Fällen auch Dauerbehandlungen.

Angsterkrankungen

Bei Angsterkrankungen ist die Therapie der ersten Wahl die Psychotherapie. Viele Patienten erleben hierdurch eine ausreichende Besserung der Symptomatik. Noch stärkere Effekte lassen sich erzielen, wenn man Psychotherapie und ein antidepressives Medikament kombiniert.

Citalopram und Escitalopram sind zugelassen zur Behandlung generalisierter Angsterkrankungen, der Panikstörung und bei der Posttraumatischen Belastungsstörung.

Escitalopram ist darüber hinaus auch zugelassen zur Behandlung der sozialen Phobie.

Bei Angsterkrankungen setzt man üblicherweise eher höhere Dosierungen ein. In dieser Indikation sind SSRI oft verlässlicher wirksam als in der Behandlung von Depressionen.

In der Therapie von Angst und Panik ist besonders viel Geduld erforderlich. Panikanfälle hören oft schon nach zwei bis vier Wochen auf; bis eine deutliche Abnahme der Ängste eintritt, können aber erfahrungsgemäß vier bis zwölf Wochen vergehen.

Wenn die Symptomatik abgeklungen ist, sollte man einige Monate bis zu zwei Jahren warten, bevor man die Medikation langsam reduziert und schließlich absetzt.

Zwangserkrankungen

Für die Behandlung der Zwangserkrankung ist nicht das Citalopram, wohl aber das Escitalopram zugelassen. In dieser Indikation wählt man am ehesten die höchste Escitalopramdosis, die vertragen wird, bei unter 65-Jährigen also 20 mg. Die Kombination mit Psychotherapie ist immer sinnvoll, der Behandlungserfolg kann sich langsam über mehrere Wochen und Monate aufbauen. Die Behandlung sollte bei schwereren Erkrankungen auf mehrere Jahre angelegt sein.

Dosierung Escitalopram

  • Unter 65 Jahre: max. 20 mg Escitalopram/Tag
  • Über 65 Jahre: max. 10 mg Escitalopram/Tag
  • Patienten mit Leberfunktionsstörungen: max. 10 mg Escitalopram/Tag
  • Therapeutischer Referenzbereich: 15 – 80 ng/ml

Dosierung Citalopram

  • Unter 65 Jahre: max. 40 mg Citalopram/Tag
  • Über 65 Jahre: max. 20 mg Citalopram/Tag
  • Patienten mit Leberfunktionsstörungen: max. 20 mg Citalopram/Tag
  • Therapeutischer Referenzbereich: 50 – 110 ng/ml

Nebenwirkungen

Übelkeit

Escitalopram und Citalopram können wie alle SSRI zu Übelkeit und anderen gastrointestinalen Beschwerden führen. Auch können Unruhezustände mit Symptomen wie Nervosität, Zittern und Unrast auftreten. Oft gehen diese Nebenwirkungen nach einigen Tagen der Behandlung wieder weg. Etwa 10 bis 30 % der Patienten sind zumindest in der Eindosierungsphase von Übelkeit betroffen.

In diesem Fall sollte zunächst einige Tage abgewartet werden. Geht die Übelkeit nicht von selbst weg, sollte die Dosis reduziert werden. Bleibt die Übelkeit bestehen, ist der Wechsel auf ein anderes Präparat der nächste Schritt.

QTc-Zeit-Verlängerung

Sowohl Citalopram als auch Escitalopram können zu einer dosisabhängigen QTc-Zeit-Verlängerung führen. Diese begünstigt das Auftreten einer bestimmten Herzrhythmusstörung, der Torsade-de-point Tachykardie, die tödlich enden kann. Daher sind regelmäßige EKG-Kontrollen erforderlich. Für beide Substanzen gibt es einen Rote-Hand-Brief, der auf die Gefahr einer dosisabhängigen QTc-Zeit-Verlängerung hinweist, die maximalen Dosierungen beschränkt und Kombinationen mit anderen die QTc-Zeit verlängernden Medikamenten untersagt. Ein vorbestehendes Long-QT-Syndrom ist eine Kontraindikation.

Wie bei allen Medikamenten, deren Einnahme das QTc-Intervall verlängern kann, sollte bei Gabe von Citalopram der Elektrolytstatus regelmäßig kontrolliert und ggf. normalisiert werden. Die Patienten sollten darauf hingewiesen werden, bei „Herzstolpern“, Luftnot oder Ähnlichem einen Arzt aufzusuchen.

Gefahr der Begünstigung einer manischen Episode bei bipolar Erkrankten

Die entscheidende pharmakologische Behandlung bei bipolaren Erkrankungen ist die Phasenprophylaxe. In manischen Phasen wird diese höher dosiert und mit einem Antipsychotikum kombiniert.

Auf der anderen Seite sollte man nicht jede depressive Episode im Rahmen einer bipolaren Erkrankung auch mit Antidepressiva behandeln. Dies birgt eine ernsthafte Gefahr, den Umschlag in eine Manie zu begünstigen und hilft bei dieser Patientengruppe oft viel weniger gegen die depressive Symptomatik, als dies bei unipolaren Depressionen der Fall ist1.

Sexuelle Funktionsstörungen

SSRI und SNRI können die Empfindlichkeit der Schleimhäute der Klitoris und des Penis für sexuelle Reize reduzieren. Dies kann zu einem verzögertem Orgasmus führen. Tatsächlich wird das SNRI Duloxetin gegen vorzeitigen Orgasmus verschrieben.

Diese sexuellen Nebenwirkungen können möglicherweise lange Zeit nach dem Absetzen der SSRI/SNRI bestehen bleiben; dies wird PSSD (Post-SSRI Sexual Dysfunction) genannt. (Siehe Kapitel 3.7.4)

Citalopram / Escitalopram in Schwangerschaft und Stillzeit

Beide Substanzen sollen in der Schwangerschaft nur nach gründlicher Abwägung von Risiken und möglichem Nutzen gegeben werden. Eine dänische Studie aus dem Jahr 20172 hatte Hinweise darauf gegeben, dass die Einnahme von SSRI in der Schwangerschaft das Risiko von psychiatrischen Erkrankungen bei den Kindern erhöhen könnte. Wenn Citalopram/Escitalopram abdosiert werden soll, dann sollte dies auch in der Schwangerschaft schrittweise erfolgen.

Beide Substanzen gehen in die Muttermilch über, daher wird vom Stillen mit Muttermilch abgeraten.

Absetzsymptome

Wie bei allen SSRI kann es nach dem Absetzen des Medikaments – insbesondere nach plötzlichem Absetzen – zu unangenehmen Absetzerscheinungen (siehe Kapitel 3.7.3) kommen.

Sonstige Nebenwirkungen

Weitere unerwünschte Wirkungen wie Mundtrockenheit, Magen-Darm-Beschwerden, Nervosität, Kopfschmerzen, Zittern, Herzklopfen, vermehrtes Schwitzen, Akkommodationsstörungen der Augen oder Kraftlosigkeit treten manchmal zu Beginn der Behandlung auf, legen sich aber meist nach wenigen Tagen.

Sinnvolle Kontrolluntersuchungen

Mein persönliches Fazit

Escitalopram ist ebenso wie Citalopram ein gut und sicher wirksames Antidepressivum. Bei beiden Medikamenten sind regelmäßige EKG-Kontrollen notwendig. Seit es keinen relevanten Preisunterschied zwischen den beiden Präparaten mehr gibt, bevorzuge ich Escitalopram. In der Behandlung von Ängsten, Depressionen und Zwangserkrankungen zeigt es eine gute und verlässliche Wirkung bei meist guter Verträglichkeit. Dabei halte ich das Ende der Pharmakotherapie im Blick, zu lange Behandlungen von symptomfreien Patienten nach einmaliger depressiver Episode halte ich nicht für richtig.

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

  1. DGBS e.V. und DGPPN e.V.: S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen. Seite 181 ff.https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-019.html
  2. Liu X, Agerbo E, Ingstrup KG, Musliner K, Meltzer-Brody S, Bergink V et al. Antidepressant use during pregnancy and psychiatric disorders in offspring: Danish nationwide register based cohort study. BMJ. 2017; j3668. DOI: 10.1136/bmj.j3668. http://dx.doi.org/10.1136/bmj.j3668