Wer schon mal einen Blick in die gegenwärtigen Planungen zur neuen ICD-11 nehmen möchte, der kann das unter folgendem link tun:
http://apps.who.int/classifications/icd11/browse/l-m/en
Dort hat die WHO eine Vorschau auf den aktuellen Stand der Überlegungen veröffentlicht. Es gibt eine Reihe von Änderungen, im Bildschirmfoto habe ich beispielsweise mal das neue Krankheitsbild „Avoidant-restrictive food intake disorder“ aufgenommen. Es gibt neben dieser aus meiner Sicht zwar etwas skurril anmutenden, aber letztlich wohl berechtigten Neuaufnahme in den Krankheitenkatalog auch einige sehr kontroverse Planungen. So wird am lautesten in den USA diskutiert, ob in der ICD-11 die Einschlusskriterien für die bipolare Erkrankung, Depressionen oder bestimmte Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit so weit gefasst werden, dass eigentlich nicht behandlungsbedürftige Menschen nun eine Indikation für Medikamente mit einem zweifelhaften Nutzen erfüllen würden. Und das ist in meinen Augen eine wirkliche, reale Gefahr, der man entschieden entgegentreten muss. Ein äußerst vernünftiges und sehr lesenswertes Buch genau zu dieser Thematik hat einer der Väter des amerikanischen Diagnosesystems DSM, Allen Francis, geschrieben: „NORMAL: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen„.
Wenn ihr euch ein eigenes Bild von den aktuellen Planungen für die ICD-11 machen wollt: Guckt in die Dokumentation der WHO mal rein und berichtet hier auf den Kommentaren, wie ihr über die Neuerungen denkt!
Danke für die Info 🙂
„Elimination disorder“???

Ähhhhhh …?
Oh je oh je oh je o___O
Die Autismusspektrumstörung ist eine sinnvolle Neuerung. Auch die Abstufungen bei den Persönlichkeitsstörungen finde ich begrüßenswert. Was mich irritiert, ist das Fehlen von BPS und Narzissmus bei den Traits. Die werden mir als Anwender fehlen.
Ich sehe keinen wissenschaftlichen Fortschritt in der Psychiatrie der eine neue Klassifikation rechtfertigen würde. Sinnvoller wäre es die ICD-10 V zu verbessern.
„Spektrum“ ist nur ein neues Modewort.
Persönlichkeitsstörungen sind eigentlich immer schwer.
Ich habe den Hinweis auf Allen Francis Buch „Normal“ entgegengenommen und gerade mal etwas quer gelesen. So sehr ich mit Francis einerseits übereinstimme, dass viele Diagnosen der Pharmaindustrie in die Taschen spielen, so entsetzt bin ich andererseits über einige Passagen, welche Leiden und Krankheiten der Menschen marginalisieren. Oder ganze Phänomene als nicht existent abtun. Als Argumente für Normalität zieht er sich gerne selbst als lebendes Beispiel heran. Er ignoriert meines Erachtens zudem, dass Gesellschaft sich verändert und damit auch andere Krankheiten hervorbringen kann.
Mich würde hierzu sehr ein PsychCast interessieren. Wann bitte ist etwas klinisch relevant, welche Diagnosen sind Eurer Meinung nach eher sehr abwägig, gibt es eine Korrelation zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und Krankheiten, ist es derzeit „schick“ eine psychiatrische/psychosomatische Erkrankung zu haben und gibt es eine Inflation von nicht klinisch relevanten Patienten in Eurem Arbeitskontext? Ist eine Diagnose notwendig für die richtige Therapie? Oder nur ein Kürzel für die Abrechnung und wird völlig überbewertet?
Würde mich freuen. Danke.
Es gibt eine sehr interessante Arbeit von Esther Theresia Katona aus der Uni Freiburg aus dem Jahr 2007, die das „Parental Alienation Syndrome“ aus der Sicht es Elernteils erforscht hat, das den Kontakt zum Kind verloren hat und aus unterschiedliche Gründen nicht wieder herstellen kann. Es ist ein schwerwiegendes Synrom, das oft über lange Zeit unbehandelt bleibt und, wie meine Erfahrung zeigt, zu den von E. Katona beobachteten Störungen beim entsprechenden Elternteil führt. Leider wird dieser Verlust des Kindes, aus unterschiedlichen konflikthaften Gründen, ohne entsprechende Aufarbeitung und entsprechende psychologische Hilfe über Jahre nicht gelöst. Es folgen schwere Depressionen, psychosomatische Störungen, Rückzug bis zum sozialen Fehlverhalten. Es ist nicht gleichzusetzen mit der Trauer um ein verstorbenes Kind, da hier die gesellschaftlich übereinkommende Ritualisierung in der Trauer hilfreich ist. Ein über Jahre ständig von seinem Kind getrennter Elternteil, ohne Fähigkeit zur Auflösung des Konfliktes hat für alle Beteiligten einer Familie ein psychopathogenisierendes Potential. Kann für diese Störung folgender Diagnoseschlüssel genügen?
QF50 Absence of family member
QF51 Disappearance or death of family member
QF51.0 Loss or death of child
Oder gibt es spezifischere?
ich spreche hier nicht das „parentel alienation syndrome“ im Sinne der Entfremdung durch Ablehnung seitens eines von anderen lternteil beeinflussten Kindes an. Sondern die tatsächliche nicht zu bewältigende Trauerarbeit des von der Beziehung ausgeschlossenen Elternteils mit allen psychopathologischen Folgen, für die es ja genügend ICD Schlüssel gibt, wie Depression, Hysterie, Agitiertheit, Somatisierungen, Rückzug, Verwahrlosung, Fixierung bis zur Psychose. Diese familiären Situationen sind bei weiten komplexer und bedürfen der Intervention auf mehreren Seiten und eine Sensibilisierung der entsprechenden Institutionen.