Zwei Motorboote fahren nicht schneller als eines. Und ein zweites Antidepressivum halbiert auch nicht immer die Krankheitsdauer

12 Violonisten spielen ein Konzert in 60 Minuten. Wie lange brauchen 24 Violonisten, um das gleiche Konzert zu spielen?

Ein Motorboot braucht 4 Stunden, um zu einer 20 Kilometer entfernten Insel zu fahren. Wie lange brauchen zwei Motorboote für die gleiche Strecke?

Ein Motorboot mit einem 150 PS Motor fährt 50 km/h schnell. Wie schnell fährt ein Motorboot mit zwei 150 PS Motoren?

Wenn ein Antidepressivum alleine nach mehreren Wochen keinen Therapieerfolg gebracht hat, bin ich für einen Wechsel. Ich gebe oft im ersten Schritt ein SSRI und im zweiten Schritt ein SNRI. Und wenn das nach einer ausreichend langen Behandlungsdauer nicht genug wirkt, versuche ich eine Kombination aus zwei Antidepressiva. Auch gebe ich depressiven Patienten mit Schlafstörungen oft morgens ein SSRI oder ein SNRI und abends zum Schlafanstoßen Mirtazapin. Aber ich glaube nicht, dass zwei Antidepressiva immer und bei jedem zu einer doppelt so schnellen Genesung führen wie die Gabe von einem Antidepressivum. ### Motorboote Zwei Motorboote fahren genau so schnell wie ein Motorboot. OK, sie können doppelt so viele Passagiere mitnehmen, aber sie fahren nicht schneller. Baue ich einen zweiten Motor in das Boot ein, fährt es allerdings schneller. ### Antihypertensiva, Schmerzmittel und Zweitmotoren In der Therapie des arteriellen Bluthochdruckes wird man üblicherweise zunächst mit einem Wirkstoff starten. Reicht das nicht, führt die Kombination mit einem zweiten oder dritten Wirkstoff mit einem anderen Wirkprinzip meist zu einer deutlicheren Blutdrucksenkung als die Monotherapie. Auch bei Schmerzmitteln ist es sinnvoll, zunächst eines als Monotherapie zu geben. Reicht das nicht aus, kann man zwei verschiedene Schmerzmittel kombinieren. Die Kombination von zwei Medikamenten mit unterschiedlichen Wirkmechanismen wirkt in der Regel stärker als die Monotherapie. Das ist wie bei dem Motorboot, das einen zweiten oder dritten Motor bekommt. Das fährt dann auch schneller. ### Antidepressiva Mit den Antidepressiva ist das etwas komplizierter. Es gibt schon unterschiedliche Wirkmechanismen. Da sind die SSRI, SNRI, Trizyklika, MAO-Hemmer und noch einige andere Gruppen. Aber fast alle Antidepressiva (mit Ausnahme der wenig wirksamen NRI und des Agomelatins) erhöhen die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt. Hat man im ersten Schritt ein SSRI gegeben, also einen reinen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kann man im zweiten Schritt auf ein SNRI umsteigen, das die Serotonin- und Noradrenalin Wiederaufnahme hemmt. Erfahrungsgemäß kann das mit einer zusätzlichen Wirkung einhergehen. Die Studien sind aber schon bei diesem Schritt nicht gerade umwerfend, was den Zugewinn an Wirksamkeit angeht. Danach wird die Luft noch dünner. Wenn man ein SNRI mit einem zweiten Antidepressivum kombiniert, steigt oftmals die Wirksamkeit nicht, es treten aber häufiger Nebenwirkungen auf. Es ist auf jeden Fall richtig, dass ein Teil der depressiven Patienten von einer Kombinationstherapie profitiert. Aber nicht alle. Daher soll man sich vor der Verschreibung eines zweiten Antidepressivums als Kombinationstherapie immer fragen, ob man hier eine Zwei Boote oder Zwei Motoren – Situation vor sich hat. Alleine die Ungeduld aufgrund der Dauer des Genesungsprozesses darf nicht automatisch dazu führen, dass man ein zweites Antidepressivum in Kombination gibt. > Die Genesung von einer Depression dauert auch mit einer Medikation oft vier bis zwölf Wochen. Diese Zeit wird nicht bei jedem Patienten kürzer, wenn ich zwei Antidepressiva in Kombination gebe.

19 Gedanken zu “Zwei Motorboote fahren nicht schneller als eines. Und ein zweites Antidepressivum halbiert auch nicht immer die Krankheitsdauer

  1. Mona 13. Dezember 2018 / 13:33

    „oft vier bis zwölf Wochen“
    Davon kann ich nur träumen. Ich glaub, ich würde ein Bein dafür hergeben, um nach 12 Wochen die Depressesion stark abzumildern. Ich hab schon viel ausprobiert. Ich versuche den Leuten zu glauben, die sagen, dass auch bei mir mal bessere Zeiten kommen werden.

  2. Jochen 13. Dezember 2018 / 20:13

    Ich sehe persönlich keinen Grund, jemals SNRIs zu verschrieben, weil die antidepressive Wirksamkeit der Inhibition des NET/SLC6A2 nicht reproduzierbar belegt ist. Bestes Beispiel: Reboxetin.

    SNRIs versagen in Studien regelmäßig darin, SSRIs „outzuperformen“, weisen aber fast durchgängig höhere Nebenwirkungsinzidenzen und – konsistent damit – höhere Dropout-Raten auf. Ich sehe da schlicht keinen Zusatznutzen, aber eine schlechtere Verträglichkeit.

    Und wenn SSRIs bereits versagt haben, bringt eine zusätzliche SERT/SLC6A4-Blockade der Ersatzmedikation offensichtlich keinen Nutzen, sondern höchstens unnötige Nebenwirkungen. Würde man in einem solchen Fall – aus welchem Grund auch immer – einen NRI testen wollen, wäre das besser verträgliche Bupropion, das ohne sexuelle Dysfunktion als ultimativen „Compliance Killer“ auskommt, die rationale Alternative.

    Die empfohlenen „Testzeiten“ für die angebliche Wirklatenz von SRIs allgemein halte ich für völlig überzogen. Die beste Evidenz für eine serotonerge Beteiligung an affektiven Störungen, die dysphorisierende Wirkung der Tryptophan-Depletion, tritt nämlich bereits binnen weniger Stunden (!!) ein.

    Wenn nach ca. 5 Halbwertzeiten (in der Praxis dann meistens 1 Woche*) konstante Plasmaspiegel erreicht sind, diese innerhalb der „therapeutic margin“ liegen (CYP450 „ultra-rapid metabolizers“ beachten!) und noch keine merkliche Verbesserung** eingetreten ist, setze ich ab und probiere etwas anderes. Einer der besten Prädiktoren für eine starke Response ist schließlich eine frühe Response. Weitere Dosiserhöhung kann man sich in Ermangelung einer linearen Dose-Response-Kurve meines Erachtens sparen.

    Ausnahme: Fluoxetin mit der astronomischen Halbwertzeit. Bei Prodrugs entsprechend länger, aber das betrifft in der psychiatrischen Pharmakotherapie meines Wissen nur Risperidon -> Paliperidon bei Schizophrenie.

    ** Spontane Selbstäußerung oder deutliche Minderung der Item-Scores A/B/D/I/J/L/O im BDI, ich verlasse mich niemals nur auf meinen subjektiven Eindruck.

    Für antidepressive Polypharmazie fehlt schlicht und einfach die Evidenz und in den allermeisten Kombinationen ist diese ja bekanntlich wegen des Risikos eines Serotonin-Syndroms ohnehin kontraindiziert.

    In allen Fällen, wo ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, so etwas als „Zuschauer“ miterleben zu dürfen, war der Anlass immer das völlige Ausbleiben einer merklichen Verbesserung mit Antidepressivum #1 und nicht etwa eine merkliche, insgesamt aber noch unbefriedigende Besserung. Kurzum: Man hätte Antidepressivum #1 auch einfach absetzen können.

    Allgemein versuche ich im Hinblick auf die Behandlung der Kernsymptome SRIs und Antihistaminika (Mirtazapin/Mianserin, viele Trizyklika, Quetiapin-Augmentation) möglichst zu vermeiden.

    Grund: Die primären Outcomes der meisten Studien sind bekanntlich überwiegend irgendwelche Varianten der Hamilton Depression Rating Scale, die in ihrer 17-Item/50-Punkte-Variante bis zu 6 Punkte für Insomnie, 2 für Gewichtsabnahme und 8 für Angstsymptome vergibt. Dieser offenbar vielen nicht bewusste Umstand birgt das Risiko einer deutlichen Überschätzung der Wirksamkeit dieser Substanzen gegen affektive und motivationale Symptome im engeren Sinne.

    Ausnahme: Es gibt im konkreten Fall tatsächlich ausgeprägte Schlafstörungen (-> Mirtazapin) oder eine komorbide Angststörung (-> SSRI), wo das hilfreich ist.

    Mein Algorithmus:
    (0. Substanzen mit guter Response in der Vorgeschichte)
    1. Bupropion (nicht bei Schlafstörungen oder Anorexie, Wirksamkeit wegen der Schlaf- und Gewichts-Items im HAM-D wahrscheinlich unterschätzt)
    2. Agomelatin (nicht bei hepatischen Vorerkrankungen)
    3. Tianeptin (nicht bei Opioid-Missbrauch in der Anamnese)
    4. Mirtazapin oder Mianserin (nicht bei Adipositas, Hypersomnie oder Antriebsdefiziten)
    5. SSRI (bei komorbider Angststörung, möglichst nicht bei sexuell aktiven Patienten, dabei kein Paroxetin wegen des möglicherweise ausgeprägteren Absetzsyndroms und kein Citalopram wegen QT Prolongation, bei komorbider Zwangsstörung Fluvoxamin)
    6. Moclobemid oder Tranylcypromin (letzteres nur bei sehr guter Compliance und fehlender Suizidalität), bei Ansprechen aber Unverträglichkeit eventuell Off-Label Selegilin
    7. Lithium

    Trizyklika und Exoten wie Trazodon gebe ich allerhöchstens auf ausdrücklichen Wunsch. Von Augmentation mit Neuroleptika und – wie gesagt – Milnacipran/Duloxetin/Venlafaxin halte ich nichts, weil möglicherweise geringfügige Effekte nicht die teils massiven Nebenwirkungen rechtfertigen.

    Allgemein muss man festhalten, dass Antidepressiva insgesamt äußerst schwach*** wirksame Substanzen sind und alle pharmakotherapeutischen Maßnahmen (außer eventuell Lithium- und T3-Augmentation) nach dem fehlenden Ansprechen auf das zweite Antidepressivum rein experimentell und ohne wissenschaftliche Evidenz sind.

    *** Effektstärke Antidepressiva: ca. 0,3; Effektstärke Placebo + natürlicher Krankheitsverlauf im typischen Zeitraum klinischer Studien: ca. 0,9; Effektstärke der Depression als Krankheitsentität: > 4)

  3. Mona 13. Dezember 2018 / 23:05

    Ich bin der Meinung, dass ich SNRI besser vertrage als SSRI und bessere Wirkung spüre.

    Ich hatte bei Citalopram und Fluoxetin mehrere Nebenwirkungen, die besonders bei Citaloram mit der Zeit gar nicht verschwanden. Mit Venlafaxin fühlte ich mich besser, aber hatte eine sehr heftige Nebenwirkung: starkes Schwitzen am Tag und in der Nacht, das hab ich irgendwann nicht ausgehalten. Ich probiere bald Duloxetin. Ich hoffe damit nicht so stark zu schwitzen und eine Wirkung zu spüren.

    Ich hab auch das Gefühl, dass bei Fluoxetin und Citalopram mein Blutdruck immer wieder zu tief gefallen ist und ich extrem träge wurde allgemein. Bei Venlafaxin hatte ich das Gefühl, dass mein Blutdruck stabiler war. (Ich mach allen möglichen Sport. Eigentlich müsste mein Körper das mit dem Blutdruck selbst gut hinbekommen, finde ich.)

    Ich muss noch mit der Ärztin rausfinden, was ich für besseren Schlaf machen/nehmen kann. Da hatte ich schon Quetiapin und Promethazin. Bei Quetiapin stören mich Nebenwirkungen, wie komisches Herzklopfen, und ich hab da immer heftige Absetzprobleme gehabt, z.B. gar nicht mehr geschlafen nd Jucken am ganzen Körper. Promethazin wirkt einfach zu lang, Ich schlafe dann lang und kann den ganzen Tag nichts mit mir anfangen, meine hart erwarbeitet Tagesstruktur wird komplett zerstört. Deswegen nehm ich das quasi im Notfall, wenn ich ganz dringend Schlaf benötige, weil z.B. mein Denken zu wirr wird nach 4 Tagen mit zu wenig Schlaf oder ich sowieso vor Müdigkeit nicht aufstehen kann, aber auch nicht schlafen kann.

  4. Lepofex 16. Dezember 2018 / 21:01

    Das erinnert mich ein wenig an die Zeit, als die ersten Dualcore-Prozessoren auf den Markt kamen. da hieß es dann „der hat 2 Kerne mit 2 Ghz, also insgesamt 4 Ghz!1elf“ – was natürlich feinster Käse war. Ich halte trotzdem sorgfältig ausgewählte Kombinationstherapien gerade bei etwas „untypischeren“ Patienten für eine sinnvolle Ergänzung.

  5. UlBre 17. Dezember 2018 / 19:06

    Hallo,

    ich finde die Aussage „immer erst mal SSRI, und wenn das inicht tut SNRI“ ziemlich erschreckend.

    Bekanntlich erhöhen SSRI deie Cortisolantwort auf Stress. Melancholische Derepession ist bereits von einer überschiessenden Cortisolantwort gekennzeichnet, anders als atypische Depression, die eine ageflachte Cortisolantwort hat. Dass der basale Cortisolspiegel bei beiden erniedrigt ist, hat weniger Bedeutung als die Tatsache, dass melancholisch Depressive ihre Depressionsschmerzen zum Zeitpunkt des höchsten basalen Cortisolspiegels haben (mogens zusammen mit der Cortisol-Aufwachreaktion), atypisch Depressive zum Zeitpunkt des niedrigsten Cortisolspiegels (im Nacht-Nadir). Es gibt also einen Zusammenhang, auch wenn er indirekt sein mag.
    Nach der mir bekannten Fachliteratur zur Pharmakologie der Depression sind SSRI bei melancholischer Deprssion auch weniger erfolgreich als guite alte trizyklische Antidepressiva. Die TZA vermeidet man ohnehin nicht wengen ihrer Unwirksamkeit, sondern wegen ihren Nebenwirkungen. Nur wenn die Nebenwirkung von SSR bei (nur bei melancholischer Depression) doch erst mal eine Verschlimmerung des Depressionsempfindens wäre, machen SSRI da doch nicht so viel Sinn ?

    Dazu erlaube ich mir den Hinweis,d as 34 % aller behandlungsresistenten Depressionen eine nicht erkannte AD(H)S-Störung ist…

    Sind Sie anderer Meinung ? Bin sehr gespannt, dazuzulernen.

    Beste Grüsse

    • Jochen 18. Dezember 2018 / 10:07

      „ich finde die Aussage „immer erst mal SSRI, und wenn das inicht tut SNRI“ ziemlich erschreckend.“

      Die Reihenfolge ist vor allem auch völlig unökonomisch. Wenn überhaupt, dann wäre es sinnvoll, zuerst SNRIs zu geben, und im Fall von „wirksam-aber-unverträglich“ wegen typischerweise noradrenerger Nebenwirkungen einen Umstieg auf SSRIs zu erwägen, in der Hoffnung, dass die Response serotonerger Natur ist. Wenn SNRIs unwirksam sind, macht es dann aus logischen Gründen keinen Sinn mehr, SSRIs überhaupt erst zu probieren, was in der umgekehrten Reihenfolge aber nicht der Fall ist.

      Wie gesagt: Es fehlen belastbare Hinweise auf eine antidepressive Wirkung der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung. Außerdem geben mir SNRIs für die Behandlung nichts in die Hand, was SSRIs und Bupropion nicht auch tun.

      Wie die riesige Cipriani-Metaanalyse von diesem Jahr wieder bestätigt, gibt es für die meisten Paare von Antidepressiva keine signifikanten Wirksamkeitsunterschiede und wenn doch, sind diese so winzig, dass keine praktische Relevanz besteht. Von daher macht es Sinn, die Behandlung mit den nebenwirkungsärmsten Substanzen zu beginnen, was meines Erachtens Bupropion, Agomelatin und Tianeptin (in dieser Reihenfolge) sind. Und im Gegenzug Substanzen mit von Patienten üblicherweise als stark beeinträchtigend erlebten Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme (Antihistaminika) und Anorgasmie/Libidoverlust/erektiler Dysfunktion (SRIs) möglichst zu vermeiden, und sei es alleine, um die Compliance zu gewährleisten.

      • Mona 18. Dezember 2018 / 15:47

        Ob man nun Libidoverlust werden der Depression oder der Behandlung hat, macht doch auch nicht mehr viel aus. Die Antibabypille kann das auch machen, trotzdem wird die von vielen Frauen genommen.
        Trifft diese Nebenwirkung Anorgasmie/Libidoverlust/erektiler Dysfunktion wirklich so viele Menschen und stört es die Menschen wirklich so sehr, dass sie wünschen das Medikament abzusetzen?

      • Jochen 18. Dezember 2018 / 19:01

        https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19440080

        „Our analyses indicated a significantly higher rate of total and specific treatment-emergent SD and specific phases of dysfunction compared with placebo for the following drugs in decreasing order of impact: sertraline, venlafaxine, citalopram, paroxetine, fluoxetine, imipramine, phenelzine, duloxetine, escitalopram, and fluvoxamine, with SD ranging from 25.8% to 80.3% of patients. No significant difference with placebo was found for the following antidepressants: agomelatine, amineptine, bupropion, moclobemide, mirtazapine, and nefazodone.“

        25% bis 80% merken es oder gestehen es ein, aber alle sind zumindest auf subsyndromalem Level betroffen, weil es sich um eine intrinsische Nebenwirkung handelt. Auf Deutsch: Die sexuelle Dysfunktion ist ein Nebeneffekt des (angenommenen) Wirkungmechanismus und es ist prinzipiell unmöglich, einen SRI zu entwickeln, der diese Nebenwirkung nicht hat.

        Vier Probleme damit:
        1) Diese Nebenwirkung wird insbesondere, aber nicht nur, von sexuell aktiven Patienten und Männern als besonders belastend erlebt.
        2) Sie ist sehr schambehaftet und wird daher, obwohl sehr häufig, in der Regel nicht spontan angesprochen und teilweise sogar auf explizite Nachfrage hin geleugnet.
        3) Beziehungen und Ehen sind ein günstiger prognostischer Faktor und durch die Krankheit häufig bereits erheblich belastet, was durch Sexualstörungen zusätzlich geschieht.
        4) Patienten, die von solchen Nebenwirkungen belastet sind, setzen ihre Medikation ohne Rücksprache ab, sind für weitere Behandlungsversuche weniger zugänglich oder erleben eine deutlich verschlechterte, therapeutische Beziehung, was wiederum ein ungünstiger, prognostischer Faktor ist.

        Neuroleptika haben das gleiche Problem, in diesem Fall vermittelt durch die antiprolaktostatische Wirkung von DRD2-Antagonisten in der Hypophyse, weshalb ich dort versuche, möglichst mit Aripiprazol (oder neuerdings Cariprazin) einzusteigen und Amisulprid und Risperidon bei Männern möglichst zu vermeiden.

    • Zyxox 23. Dezember 2018 / 22:05

      Hätten Sie zu den von Ihnen genannten Punken ein paar Paper-Empfehlungen? Soll nicht ungläubig klingen, sondern ist aus Interesse gespeist.

      • Jochen 24. Dezember 2018 / 05:49

        Gerne doch. Ich nehme es auch nicht übel, sondern finde es im Gegenteil sehr richtig, dass man kritisch nachfragt.

        Mein erster Antwortversuch ist gerade wohl im Spam-Filter verendet. Ich habe jetzt alle Links mit Zahlensalat durch die Titel der Paper ersetzt und hoffe, dass man die so trotzdem schnell finden kann und der Kommentar jetzt durchgeht.

        #1 SSRIs vs. SNRIs

        (Abb. 4 aus „Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis“)

        Das ist Fig. 4 aus der großen Cipriani-Metaanalyse im Lancet vom Februar diesen Jahres. („Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis“)

        „Drugs are reported in alphabetical order. Data are ORs (95% CrI) in the column-defining treatment compared with the row-defining treatment. For efficacy, ORs higher than 1 favour the column-defining treatment (ie, the first in alphabetical order). For acceptability, ORs lower than 1 favour the first drug in alphabetical order. To obtain ORs for comparisons in the opposite direction, reciprocals should be taken. Significant results are in bold and underscored.“

        Duloxetin und Milnacipran haben keine signifikanten Vorteile in der Wirksamkeit (Kriterium: Odds Ratio für Response) gegenüber irgendeiner anderen Substanz. Venlafaxin ist signifikant wirksamer als Fluoxetin, Reboxetin und Trazodon.

        Duloxetin ist signifikant schlechter verträglich (Kriterium: Odds Ratio für die Drop-Out-Rate) als Agomelatin und alle ausgewerteten SSRIs außer Fluvoxamin (also Citalopram/Escitalopram, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin uns Vortioxetin). Milnacipran wird signifikant BESSER vertragen als Clomipramin und zeigt ansonst keine signifikanten Verträglichkeitsvor- oder nachteile. Venlafaxin ist signifikant schlechter verträglich als Agomelatin, Escitalopram und Vortioxetin.

        Der einzige Fall, wo ein SNRI ein SSRI „outperformt“, ist Venlafaxin vs. Fluoxetin in der Response Rate. Venlafaxin hat ohnehin nur vernachlässigbare, noradrenerge (und dopaminerge) Effekte und ist de facto eigentlich ein SSRI. (Der Strukturformel nach zu urteilen ist die Substanz ohnehin eine für analgetische Indikationen gescheiterte Me-Too-Drug zu Tramadol.)

        Duloxetin scheint so schlecht verträglich zu sein, dass sogar Amitriptylin im Vergleich eine (nicht signifikante) Tendenz zu weniger Drop-Outs hat, was selbst mich jetzt überrascht.

        Milnacipran, die Substanz mit dem größten Verhältnis von noradrenerger zu serotonerger Wirkung, ist interessanterweise sowohl in der Wirksamkeit, also auch bei der Verträglichkeit gegenüber SSRIs „neutral“.

        Mein Fazit: Nach diesen Daten kann man Milnacipran geben, es stünde aber auf meiner Liste zu erprobender Antidepressiva weit hinten. Bei Venlafaxin stellt sich die Frage „Warum nicht lieber Escitalopram?“ und auf Duloxetin sollte man wegen schlechter Tolerabilität (mit der Ausnahme guter Wirkung und Verträglichkeit in der Anamnese) ganz verzichten.

        #2 Wirklatenz und Tryptophan-Depletion

        („Neural and Behavioral Responses to Tryptophan Depletion in UnmedicatedPatients With Remitted Major Depressive Disorder and Controls“)

        „Tryptophan depletion, but not SD, was associated with a significantly greater increase in depressive symptoms (…).“ (SD = sham depletion, das ist das Placebo bei diesem Versuch)

        „Peak effects of TD on mood were found approximately 7 hours after administration of the amino acid mixture.“

        „No control subject had depressive symptoms during TD or SD. Each patient with rMDD who experienced a transient return of depressive symptoms during TD reported feeling back to baseline on assessment at the follow-up (day 2) interview.“ (rMDD = remitted major depressive disorder)

        Wenn ich Serotonin indirekt über seinen biochemischen Ausgangsstoff, die essentielle Aminosäure Tryptophan, entziehe, löse ich in ehemaligen Depressionspatienten innerhalb von 7 Stunden einen Rückfall aus. Maximal 2 Tage später sind die Depressionssymptome wieder weg. Warum sollen dann serotonerge Antidepressiva, die ihre pharmakodynamischen Effekte binnen Minuten bis weniger Stunden entfalten und nach max. 5 Halbwertzeiten stabile Plasmaspiegel erreichen, plötzlich 4-6 Wochen dazu brauchen?

        Noch mehr Probleme: Hat dieser Effekt überhaupt etwas mit Serotonin zu tun? („Mechanism of acute tryptophan depletion: is it only serotonin?“) Warum funktioniert es bei Personen ohne depressive Erkrankung in der Vorgeschichte anscheinend nicht? Oder tut es das vielleicht doch? („Tryptophan depletion causes a rapid lowering of mood in normal males“) Und funktioniert es generell überhaupt? Es gibt nämlich auch gescheiterte Versuche, die Ergebnisse zu reproduzieren. („The effect of tryptophan depletion on mood in medication-free, former patients with major affective disorder“)

        #3 Messung von Angst- und schlafbezogenen Symptomen in den primären Outcomes klinischer Studien

        Hier die HDRS-17: („Hamilton Depression Rating Scale (HDRS)“) (Englisch)
        („German version of the GRID Hamilton Rating Scale for Depression (GRID-HAMD)“) (detaillierter, aber etwas unübersichtlich auf Deutsch)

        Die Items 4, 5 und 6 geben bis zu 6 Punkte für Schlafstörungen und Item 16 dann noch 2 für Gewichtsverlust. Potenziell 8 leicht verdiente Punkte (von ca. 50 möglichen) für Antihistaminika.

        Items 10 und 11 vergeben noch einmal insgesamt 8 Punkte für Angstsymptome, die sich SRIs theoretisch holen könnten, ohne etwas an den drei hauptsächlichen Symptomdomänen (negative Affektivität, Anhedonie, Antriebsdefizite) zu verbessern.

        Zum Vergleich: SSRIs reduzieren die HDRS-Werte im Schnitt um ziemlich magere 1,94 (95% Vertrauensintervall: 1,37 – 2,70) Punkte. („Selective serotonin reuptake inhibitors versus placebo in patients with major depressive disorder. A systematic review with meta-analysis and Trial Sequential Analysis“) Da würde ich doch als Behandler schon ganz gerne wissen, in welchen Items diese Verbesserung jetzt stattfindet. Denn ob ein Medikament jetzt Hypochondrie oder Suizidalität (beides bis zu 4 Punkte) mindert, ist höflich gesagt schon ein gewisser Unterschied…

        #4 Effektstärken

        Effektstärken einzelner Antidepressiva listet die Cipriani-Gruppe in ihrem Supplementary auf S. 150-151: (Supplementary von „Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis“)

        „Stärkstes“ Antidepressivum ist demnach Amitriptylin mit 0,48, Schwächstes ist Reboxetin mit 0,17.

        Die Effektstärke von natürlichem Krankheitsverlauf + Placebo liegt bei 0,92 laut diesem Paper: („Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration“)

        „Represented as the standardized mean difference, d, mean change for drug groups was 1.24 and that for placebo 0.92, both of extremely large magnitude according to conventional standards.“

        Die Effektstärke der durchschnittlichen Depression kann man relativ leicht ausrechnen. Man darf nur nicht den Fehler machen, Werte aus klinischen Studien zu nehmen, weil es dort über die Inklusionskriterien einen „Cut-Off“ nach unten gibt, was dann zu einer Überschätzung der Effektstärke führen würde.

        Hier stattdessen aus der Validierung einer Selbstbeurteilungsvariante der HDRS: („Reliability and Validity of the Hamilton Depression Inventory: A Paper-and-Pencil Version of the Hamilton Depression Rating Scale Clinical Interview“)

        Nach Tabelle 4 (S. 478), haben Depressive (n = 135) einen Mittelwert von 22,39 auf der HDRS mit einer Standardabweichung von 3,69, die gesunde Kontrollgruppe (n = 117) dagegen 3,67 (Stabw = 3,11). Gewichteter Mittwert der Standardabweichungen ist (117 * 3,11 + 135 * 3,69) / (117 + 135) = 3,42. Die Mittelwertdifferenz beträgt 22,39 – 3,67 = 18,72. Die Effektstärke (Cohen’s d) ist also 18,72 / 3,42 = 5,47.

        Beim Hamilton Depression Inventory 17 (HDI-17) haben wir einen Mittelwert von 22,22 (Stabw = 5,12) für Depressive und 3,99 für die Kontrollen (Stabw = 2,99). Hier ist der gewichtete Mittelwert der Standardabweichungen (117 * 2,99 + 135 * 5,12) / (117 + 135) = 4,13, mit einer Mittelwertsdifferenz von 22,22 – 3,99 = 18,23, was eine Effektstärke liefert von 18,23 / 4,13 = 4,41.

        Die Effektstärke scheint also relativ variabel zu sein und irgendwo zwischen 4 und 6 zu liegen.

        Um noch einmal auf Punkt #3 zurückzukommen: Man sieht in der Tabelle auch ganz eindeutig, dass Leute mit Angststörungen Werte erreichen, die einer leichten, depressiven Episode entsprechen, weil die Testverfahren immer auch Angst „mitmessen“. Und da weder zur Diagnostik von Depressivität, noch zu der von Angststörungen irgendwelche „harten“, objektivierbaren Verfahren zur Verfügung stehen, kann niemand sagen, ob es sich dabei um „echte“ Komorbiditäten handelt oder bloß die gängigen, psychometrischen Tests Mängel bei der sogenannten „divergenten Konstruktvalidität“ haben.

      • UlBre 31. Dezember 2018 / 12:51

        Hallo Zyxox,

        keine Ahnung, ob ich angesproichen war. Komme mit der Kommentarstruktur hier noch nicht so ganz klar 😉
        Falls es um die Unterschiede zwischen melancholischer und atypischer Depression in Bezug auf die Cortisolstressantwort ging, hier ein Link auf meine Wissenssammlung dazu, dort finden sich auch die Papers:
        https://www.adxs.org/cortisol-bei-anderen-stoerungsbildern/#2_Depression

        Über Hinweise auf Fehler freue ich mich immer.

        Bei der Gelegenheit: hat jemand Erfahrung mit DHEA bei Depressionen ? Insbesondere, ob DHEA bei melancholischer (endogener) und atypischer Depression gleichermassen wirkt ?

        Besten Dank

      • Jochen 31. Dezember 2018 / 17:50

        Die adxs.org Seite sieht interessant und gut recherchiert aus. Werde ich bei Gelegenheit sicher einmal genauer durchstöbern!

        Ich hatte vor ein paar Jahren einmal einen jungen Patienten, der mit Verdacht auf ein schizophrenes Prodrom aus stationärer Behandlung kam und selber über PubMed irgendwelche Studien recherchiert hatte. Der hat dann mit mittelmäßigem Erfolg DHEA und Pregnenolon gegen seine (vermeintliche) Negativsymptomatik, die sich hinterher eher als Dysthymie + gewisse Persönlichkeitsakzentuierung herausgestellt hat, genommen.

        Selbstverständlich kann man am Einzelfall nicht beurteilen, ob das eine echte Wirkung, Placebo-Effekt oder natürlicher Krankheitsverlauf war. Die Eigenrecherche hat mich persönlich definitiv beeindruckt, aber schon allein aus rechtlichen Gründen kann ich mich in solchen Situationen nicht dazu äußern, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde das billigen/unterstützen.

        Hätte sich bei ihm damit allerdings eine deutliche Besserung eingestellt, dann wäre er einerseits zum Endokrinologen überwiesen worden, begleitet von einem persönlichen Anruf dort mit der höflichen Bitte, doch mal nach einem Vorwand für Testosteron-Supplementation Ausschau zu halten. Andererseits hätte ich wahrscheinlich Opipramol oder Fluvoxamin (beides wie DHEA und Pregnenolon Sigma-Agonisten) ausprobiert.

        Noch eine kleine Anekdote zu Sigma-Agonisten: Ein Freund von mir (Internist), schwört bei der Behandlung seines alle paar Jahre rezidivierenden „Burn-Outs“ (Als Arzt kriegt man selbstverständlich keine Depression…) auf die Kombination Bupropion + Dextromethorphan, wobei er Bupropion für ein Placebo hält und nur als CYP2D6-Inhibitor nimmt.

  6. UlBre 17. Dezember 2018 / 19:12

    Boah, was Schreibfehler… sorry !!!

    • Magg 19. Dezember 2018 / 11:42

      Bei Vortioxetin ist die Problematik der sexuellen Dysfunktion wenig bis gar nicht vorhanden, obwohl es zum großen Teil wie ein SSRI wirkt?

      Achja, ich hätte an den Blogbetreiber einen Beitragswunsch zum Thema PSSD (Post-SSRI sexual dysfunction). Zum Beispiel ob ihm das in seiner Praxis schonmal begegnet ist und wie sie dieses Phänomen einschätzen.

      Danke und Gruß

      • Magg 19. Dezember 2018 / 11:43

        @Jochen sollte der Beitrag gehen

      • Jochen 20. Dezember 2018 / 02:59

        Wenn man sich nicht auf die schambehafteten und deshalb unzuverlässigen Spontanäußerungen verlässt, sondern psychometrische Testverfahren verwendet, dann liegt die Number-Needed-to-Harm (NNH), also die Anzahl von Patienten, die man erwartungsmäßig mit Vortioxetin (20 mg/Tag) behandeln müsste, um einen zusätzlichen Fall von Sexualstörungen zu verursachen, für Männer bei 7 und für Frauen bei 8.

        https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4542474/

        Das ist deutlich niedriger als bei „klassischen“ SRIs, aber immer noch ein Problem und mit etwa 14,3% (Männer) und 12,5% (Frauen) immerhin die zweithäufigste Nebenwirkung nach Übelkeit. Die Ursache für die vergleichsweise niedrigere Inzidenz ist vermutlich der Partialagonismus am 5-HT1B-Rezeptor, der sich bei hohen Serotonin-Konzentrationen wie ein funktioneller Antagonismus auswirken sollte. 5-HT1B-Agonisten bewirken jedenfalls Ejakulationsstörungen im Tiermodell und sind außerdem bekannt für vasokonstriktive (gefäßverengende) Effekte, die eine Erektion beeinträchtigen. Dagegen spräche allerdings, dass Triptane in der Migränetherapie typischerweise keine solchen Nebenwirkungen haben.

        Ich bin kein großer Freund der „Zusatznutzen“-Ideologie hinter dem AMNOG, aber Vortioxetin vermisse ich wirklich kein bisschen. Meine Hoffnung vor der Markteinführung war höchstens, dass es als hochaffinitiver 5-HT3-Antagonist möglicherweise antiemetische Effekte oder zumindest keine Übelkeit/Erbrechen als Nebenwirkung hat, aber selbst das war ja reine Illusion.

    • UlBre 31. Dezember 2018 / 12:51

      Der Schreibfehlerkommentar bezog sich eigentlich auf meinen ersten eigenen Beitrag…
      sorry…

      • UlBre 31. Dezember 2018 / 12:54

        Was muss ich eigentlich tun, damit ein Kommentar ein Unterkommentar zu einem anderen ist und nicht als neuer Hauptkommentar auftaucht ?
        Ich verstehs grad nicht… Der Antwortbutton unter einem Kommentar führt nicht immer dazu…
        Bitte überflüssige Kommentare löschen. Sorry !

    • UlBre 31. Dezember 2018 / 12:52

      Der Schribfehoerkommentar bezog sich auf meinen eigenen ersten Beitrag.
      Sorry…

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