In jeder psychiatrischen und auch jeder speziell suchttherapeutischen Klinik gibt es bestimmte Regeln, wie im Rahmen von Entzugsbehandlungen mit Suchtmittelrückfällen umzugehen ist. Natürlich betrachtet man in jedem Einzelfall die individuelle Situation und entscheidet sich nicht nach einem strikten Muster, aber eine normalerweise sinnvolle Richtung gibt es schon. Einige typische Gedanken sind etwa:
- Wenn jemand akut psychotisch ist, führt ein Suchtmittelrückfall am ehesten zu einer Beschränkung des Einzelausgangs, um einen erneuten Rückfall zu verhindern und die Therapie der psychotischen Symptomatik fortsetzen zu können.
- Bei einer geplanten freiwilligen Alkoholentzugsbehandlung auf einer offenen Station führt der erste Alkoholrückfall zu einer Verhaltensanalyse, einem ernsthaften Gespräch und häufig einer „Gelben Karte“, also der Verwarnung, beim nächsten Suchtmittelrückfall entlassen zu werden, jetzt aber noch in Behandlung bleiben zu dürfen.
- Bei einem zweiten Suchtmittelrückfall während einer stationären Behandlung, wenn der Patient also schon eine „Gelbe Karte“ hat, folgt häufig dann die „Rote Karte“, der Patient wird also darüber informiert, dass er heute entlassen wird. Nach dieser Information wird er gefragt, was zu dem Rückfall geführt hat. Es wird dann eine ganz kurze Verhaltensanalyse durchgeführt. Danach wird besprochen, zu welcher Uhrzeit der Patient entlassen wird. Dann wird besprochen, wann er wieder aufgenommen werden kann. Hier können Zeiten von einem Tag bis zu einem Monat sinnvoll sein. Häufig entscheide ich mich für eine Wiederaufnahmemöglichkeit nach 3, 7 oder 14 Tagen.
- Im Rahmen einer Opiatentgiftung bei Heroinabhängigen Patienten ist es üblich, mit den Patienten vor Beginn der Behandlung zu besprechen, dass bereits der erste Rückfall mit einem illegalen Rauschmittel wie Heroin, Kokain oder Amphetaminen zur sofortigen Entlassung führt, nicht nur zu einer Verwarnung. Nicht-abgegebene Drogenscreenings werden wie positive Drogenscreenings gezählt und führen also auch zu einer direkten Entlassung.
- „Dealen auf der Station“ führt immer zur direkten Entlassung und in der Regel zu einer Wiederaufnahmesperre von 3-6 Monaten.
- Wiederaufnahmesperren bedeuten, dass der Patient nicht elektiv aufgenommen wird. Im medizinischen Notfall, zum Beispiel einem Delir, einer akuten Psychose oder Suizidalität wird natürlich auch ein Patient mit einer Wiederaufnahmesperre aufgenommen.
Wenn ich einem Patienten oder seinen Angehörigen erkläre, dass ich ihn wegen eines ersten Rückfalls mit einem illegalen Suchtmittel oder eines zweiten Rückfalls mit Alkohol nun zunächst entlasse und eine Wiederaufnahme erst in X Tagen anbiete, dann argumentieren die Betroffenen sehr häufig, dass die Entlassung gerade jetzt im Moment des Rückfalls dem Patienten schadet. Gerade jetzt brauche er die Unterstützung der Klinik. Häufig wird angeführt, dass der Anlass des Rückfalls, oft ein belastendes Lebensereignis oder anderer Streß, gerade jetzt den Schutz der Klinik und therapeutische Unterstützung erforderlich machten, und nach der Entlassung ein Abgleiten in eine neue Phase der Sucht geradezu auslösen würden.
Und diese Argumente treffen wahrscheinlich in der überwiegenden Zahl der Fälle auch wirklich zu. Tatsächlich ist es für den einzelnen Patienten möglicherweise wirklich schlechter, nach Hause entlassen zu werden, und hier möglicherweise sehr viel mehr zu konsumieren, als in der Klinik zu bleiben, und einem höheren sozialen Druck ausgesetzt zu sein, nicht zu trinken.
Aber genau das ist der Grund, warum diese Entlassungen erforderlich sind:
Die Klinik ist ein Ort der Suchtmittelfreiheit, und dieser Ort muss geschützt werden.
Natürlich dürfen in einer Klinik im Rahmen eines Entzuges Ersatzstoffe wie Methadon oder im Alkoholentzug Distraneurin oder Benzodiazepine gegeben werden. Aber diese werden ja kontrolliert und dosiert gegeben. In einer Klinik müssen sich alle Patienten darauf verlassen können, dass der Konsum illegaler Drogen gar nicht geduldet wird und Alkoholrückfälle wirklich nicht stattfinden sollten und spätestens beim zweiten Konsum auch zur Konsequenz der Entlassung führen.
Denn nur wenn die Klinik ein vor Suchtmittelgebrauch weitgehend geschützter Ort ist, kann dort eine sinnvolle Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung durchgeführt werden.
Warum entlassen wir also nach einem Suchtmittelrückfall? Nicht, weil dies in dieser Situation das beste für den Patienten ist, sondern weil wir die Klinik als weitgehend suchtmittelfreien Ort schützen.
Eine sehr klare und gute Erklärung: Die Klinik als (für Entzugswillige) garantiert suchtmittelfreier Raum.
Moin,…arbeite selber seit 10 Jahren auf einer geschlossenen Station für Abhängigkeitserkrankungen, hauptsächlich Alkohohl und illegale Drogen und Medikamentenmissbrauch. Kann den Beitrag nur unterschreiben. Dadurch wissen unsere Klienten im voraus wie wir unseren Rahmen schützen.
Landesverein Innere Mission Rickling
Finde das auch eine gute Erklärung.
Leider ist das mit dem „garantiert suchtmittelfreier Raum“ eine Utopie.
Kein Knast der Welt ist drogenfrei. Und die Entzugsstationen, wie auch die Therapieeinrichtungen schon gar nicht.
Traurig genug.
Konsum fliegt bei uns (NDE) generell raus – und das scheint noch nicht streng genug zu sein
LG
Sister Act 😉
Ich zitiere mal einen Blogeintrag den ich neulich las, ich denke das paßt hier irgendwie:
Die wichtigste Voraussetzung einer Entwöhnungsbehandlung (das ist die offizielle Bezeichnung einer Suchttherapie) ist Symptomfreiheit! Vergleiche mit somatischen Erkrankungen machen diese Seltsamkeit deutlich: Eine Blinddarmentzündung würde nach diesem Konzept erst behandelt, wenn der Blinddarm nicht entzündet ist. Verwegener Gedanke. Auch bei (anderen) psychischen Erkrankungen ist diese Konzeption undenkbar. Bricht bei einem Patienten eine Psychose aus, wird die Behandlung intensiviert, oft folgt eine Einweisung in eine Fachklinik.
Die Aufnahme in eine Suchtfachklinik erfolgt dagegen nur, wenn das Sympton sich nicht zeigt, bei Abstinenz. Das Behandlungsziel soll also schon bei Behandlungsbeginn gegeben sein, es wird eine temporäre Selbstheilung vorausgesetzt. Anderenfalls wird die Behandlungsmotivation bezweifelt. Wenn sich das Symptom während der Behandlung zeigt (also ein Rückfall geschieht) gibt es Warnungen vor Konsequenzen, zeigt es sich erneut (das ist ja charakteritisch für den Kontrollverlust) wird die Behandlung beendet: Entlassung aus disziplinarischen Gründen.
aus: https://juergenoetting.wordpress.com/2015/07/26/sucht-keine-krankheit/
Der Konsum oder Nichtkonsum von Substanzen ist das kleinste Problem eines abhängigen Menschen.
Wieso eigentlich die Ungleichbehandlung Alkohol vs. BtmG-Drogen?
Klingt oberflächlich nachvollziehbar, hinkt aber an einer Stelle. Die Fähigkeit, den eigenen Suchtmittelkonsum kontrollieren zu können, wird vorausgesetzt. Das führt zur (zugespitzten) Konsequenz, dass jede Aufnahme ohne Indikation erfolgt: Diejenigen, die zur Kontrolle des eigenen Substanzkonsums befähigt sind, erhalten eine Behandlung, die sie offensichtlich nicht benötigen. Diejenigen, die ihren Substanzkonsum nicht kontrollieren können, werden entlassen um den Rahmen für diejenigen zu schützen, die die Behandlung nicht benötigen. Letztlich wird mit jeder Entlassung die antipsychiatrische Grundannahme bestärkt, die die PatientInnen ohnehin schon mitbringen: Sucht ist eine schlechte Angewohnheit, wenn ich mich nur genug anstrenge, dann schaffe ich das auch. Wenn nicht, dann habe ich es gewollt und bin ein Versager.
Auch ist die Annahme, dass eine Klinik Suchtmittelfreiheit benötigen würde, ebenso intuitiv wie gefährlich. Das mag für die Entzugsbehandlung zutreffen. Die Gesellschaft ist jedoch kein suchtmittelfreier Raum. Ebenso wie Schwimmübungen im Trockenen trägt das Erlernen von Abstinenzfähigkeit im geschützten Raum dazu, dass man fortan in Kliniken nüchtern bleiben kann. Eine Generalisierung ohne therapeutische Unterstützung wäre schön, widerspricht aber dem, was wir aus der Psychotherapieforschung wissen: Verhalten muss im relevanten Kontext wiederholt geübt werden um auch tatsächlich auch zuverlässig einsetzbar zu sein.
Abgesehen von meiner Polemik: Toll, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit angesprochen wird. Die Entlassung aus der Psychiatrie ist ein zentraler Aspekt der Praxis, der jedoch kaum thematisiert wird.