Eine ganz normale Aufnahme ins Krankenhaus im Jahr 2035

„12830 HealthCredits? Das ist ziemlich knapp. Aber wir finden schon ein passendes Programm für sie.“ Die junge Frau schaute besorgt auf Finns ApplePad. „Das kriegen wir schon hin.“ Als sein ambulant behandelnder Arzt Finn geraten hatte, ins Krankenhaus zu gehen, weil man dort Angststörungen am effektivsten behandeln könne, hatte er zugestimmt. So ging es wirklich nicht weiter. Er traute sich kaum noch, seine Wohnung zu verlassen. Auf seiner Arbeit als Logistikfachkraft fiel es ihm immer schwerer, Außentermine anzunehmen. Es ließ sich also nicht mehr aufschieben, er musste was tun. Im Aufnahmebüro hatte er zuerst mit der Sachbearbeiterin seiner Krankenkasse gesprochen. Der Algorithmus hatte festgestellt, dass 12830 HealthCredits reichen müssten, um wieder arbeitsfähig zu werden. Sie hatte ihm auch gleich angeboten, vom Basis in den Premium-Tarif zu wechseln, dann bekäme er beim nächsten Mal bei den gleichen Parametern 16400 HealthCredits für seine Behandlung. Aber der Premium-Tarif war ihm zu teuer. Im Nebenzimmer erwartete ihn seine Persönliche Genesungsberaterin. Hier wie in jeder anderen AmazonKlinik hatten alle englische Titel. Die Patienten hießen Clients, das Essen hieß AmazonFreshFood. Na ja, das schmeckte sogar im Basistarif ganz gut. „Wollen Sie denn am Anfang hier im Krankenhaus übernachten?“ fragte die Genesungsberaterin, „Das kostet 260 Credits pro Nacht. Bei einer Angststörung ist das eigentlich nicht erforderlich.“ Finn schaute sie genauer an. Den dunklen Augen, dem schwarzen Haar und dem leichten Akzent nach war sie am ehesten spanischer Herkunft. „Na ja, in der ersten Woche würde ich schon ganz gerne vollstationär bleiben, kalkulieren wir das mal.“ „OK, dann käme dazu das Basispaket: Zwei Arztvisiten pro Woche, ein Psychotherapiegespräch pro Woche, 2 mal Sport, ein mal Ergo und natürlich die Medikamentenflatrate. Macht 1300 Credits pro Woche.“ Finn nickte. „Ich empfehle noch unser Achtsamkeitspaket: zwei mal Yoga und einmal Entspannung. Kostet normalerweise 400 Credits pro Woche, aber im Moment haben wir das im Angebot für 250 Credits pro Woche.“ „Wenn sie meinen, dann nehme ich das auch.“ „Gut, das macht dann 3370 Credits für die erste Woche. Wenn sie danach vielleicht noch vier Wochen tagesklinisch bleiben, reichen die Credits auch noch für einige Monate ambulante Psychotherapie, sollen wir das mal durchrechnen?“ „So machen wir das.“ 10 Minuten später hatten sie sich auf einen Therapieplan geeinigt. Finn schob der Ärztin sein ApplePhone herüber. Sie lud die früheren Arztbriefe, die in den letzten Jahren verordnete Medikation, das letzte Labor und ein paar der anderen Gesundheitsdaten aus der Health-App auf das Krankenhauscomputersystem herunter. Danach installierte sie die AmazonHealth-App, in der Finn seinen Therapieplan fand, die Materialien für die Gruppentherapien und den Shop, über den er täglich zusätzliche Leistungen, wie das Premium-Essen, einen Wahlarzt oder die Teilnahme an der Therapie im Klettergarten dazu buchen konnte. Über die App hatte er natürlich auch Zugriff auf seine Behandlungsdokumentation. Früher konnten die Patienten ja nicht einfach so lesen, was die Therapeuten schrieben. Das war nun durch die EU-Richtline 785 aus dem Jahr 2032 geändert worden. Nach jeder Therapie konnten man nun direkt auf seinem Smartphone nachlesen, was der Therapeut geschrieben hatte und man konnte selbst eigene Kommentare dazu posten. Wenn der Sporttherapeut beispielsweise geschrieben hatte, dass ein Patient nicht so gut mitgemacht hatte, konnte der Patient schreiben, dass er sich körperlich nicht so fit gefühlt habe, und sich daher etwas zurück genommen habe. Die Krankengeschichte macht wirklich nur Sinn, wenn beide Seiten sie erstellen, oder? Außerdem posten die meisten Patienten die Dokumentationen ihre Therapiegespräche gerne direkt auf Facebook, GoogleBook oder AppleBook. „Na dann gute Besserung, Finn“, sagte die Genesungsbegleiterin. „Danke und bis bald.“ antworte Finn, verließ das Aufnahmezimmer und ging zu seiner Station. Die Genesungsbegleiterin räusperte sich kurz, nahm auf ihren QiCharger-Stuhl platz, um sich aufzuladen und einzuloggen. Das heutige Update ihres Amazon-Alexa-Betriebssystems schloss eine lästige Sicherheitslücke, die es Hackern erlaubte, die in den Psychotherapien besprochenen Wünsche und Vorlieben auszulesen und zu guten Preisen an Werbeanbieter zu verkaufen. Das durfte natürlich nicht zugelassen werden, denn diese Daten hatte Amazon lieber exklusiv.

6 Gedanken zu “Eine ganz normale Aufnahme ins Krankenhaus im Jahr 2035

  1. Peter Teuschel 3. Februar 2018 / 20:23

    Grandios und leider sehr realistisch!

  2. Annie 4. Februar 2018 / 12:18

    Wenn es soweit kommt, dann bin ich permanent offline und fliehe auf meine eigene einsame Insel 😉

  3. Alice 4. Februar 2018 / 15:19

    Oh man das will ich bitte nicht erleben. Da bekommt man ja Angst

  4. Giselle 6. Februar 2018 / 15:05

    Wirklich großartig und erschreckend nachvollziehbar!
    Manchmal brauchen wir glaube ich so ein Horrorszenario, um uns selbst mal wieder ein wenig digitale Auszeit zu gönnen. Vielen Dank!

  5. Iii 8. Februar 2018 / 15:06

    2035 noch Angststörungen?

    Bis dahin erwarte ich Hirnschrittmacher in modernster Fassung, Genmanipulation, Erweiterungen durch Mikrochips fürs Hirn etc.

    Das sind noch über 17 Jahre.

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