Buchempfehlung: Im Kopf eines Irren

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Die Geschichte des Anschlages von Utøya und die damit verbundene Geschichte des Attentäters Anders Behring Breivik ist aus vielerlei Gründen äußerst interessant. Die Frage, ob und in welchem Maße Breivik schuldfähig ist, ist eine davon. Die Frage, wie ein Mensch eine solche kaum vorstellbare Greueltat begehen kann, eine zweite.

Dem Autor Richard Orange ist es gelungen, im Stile eines Chronisten eine sachliche Darstellung der Tat und des nachfolgenden Prozesses einschließlich der beiden psychiatrischen Begutachtungen aufzuschreiben. Die Überlegungen der Anklage, der Verteidigung und schließlich des Gerichtes, das Breivik schlussendlich für voll schuldfähig erklärt und zu 21 Jahren Freiheitsstrafe mit der Möglichkeit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt hat, werden ausführlich und gut nachvollziehbar dargelegt.

Für jeden, der sich mit diesem Abgrund der menschlichen Psyche auseinander setzen möchte, für jeden, der sich für die Grenzen zwischen Terrorismus aufgrund eines extremen politischen Fanatismus auf der einen Seite und einer möglichen psychischen Erkrankung auf der anderen Seite interessiert und für jeden, der an einer sachlichen Prozessberichterstattung im Fall Breivik interessiert ist, kann ich das Buch 100-prozentig empfehlen. Es kostet als Amazon-Single 2,99 €, für Amazon-Prime Kunden ist es sogar kostenlos ausleihbar.

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Kann die Psychiatrie helfen, zu verstehen, was Breivik getan hat?


Heute habe ich einen sehr interessanten Vortrag von Prof. Malt gehört. Prof. Malt war einer der Gutachter, der Breivik begutachtet hat.

Er sagt, dass bei Breivik eine ganze Reihe von Umständen und Besonderheiten zusammen gekommen sind. Die Mutter von Breivik sei sehr sonderbar gewesen, vielleicht am ehesten wie eine Asperger-Autistin. Die Mutter-Kind-Interaktion mit Breivik sei bis zuletzt fatal abnorm gewesen. Breivik selbst zeige einige Symptome des Asperger-Autismus, darunter ein Mangel an Empathie, eine gute verbale Kompetenz bei mangelhafter Empathie, eine pathologische Fixierung auf wenige lebensfremde Aspekte des Lebens, ohne adäquate Verknüpfung mit dem restlichen Leben.

Dazu gekommen sei eine zunehmende Fanatisierung der Gedanken im Sinne eines ausländerfeindlichen Denkens. Gefolgt von einer realitätsentrückten Größenphantasie; so dachte Breivik wohl, er sei auserwählt, Fehler in der Gesellschaft durch eigene Entscheidungen über Leben oder Tod zu korrigieren. Diese Größenideen und das extreme Ausmaß der Entfernung von jeder irgendwie noch nachvollziehbaren Realitätsauffassung beurteilt auch Prof. Malt als „delusional“ also am ehesten wahnhaft. Dabei darf man gerade in Deutschland nicht vergessen, dass es eine Zeit gab, in der eine unfassbare Menge an Menschen eben so gedacht hat: „Wir müssen eine andere Rasse auslöschen, sonst löscht sie uns aus!“ Und diesen schrecklichen Teil unserer Geschichte interpretieren wir ja nicht entschuldigend als kollektiven Wahn, sondern als menschenverachtend böse, fanatisch und verwerflich, aber eben nicht als einfache Krankheit. 

Breivik habe dann auch noch Zeichen eines Gille-de-la-Tourette-Syndromes gezeigt, namentlich Phasen von aggressivem Impulssturm: „Rage“. 

Auch sehr ausgeprägte Elemente eines pathologischen Narzissmuss sind bei Breivik zwanglos zu diagnostizieren.

Er habe sich dann in diese Welt immer mehr zurück gezogen, habe ein Jahr lang nur vor seinem Computer gesessen. Dann habe er noch diesen Waffen-Fanatismus gehabt, habe Zugang zu Waffen gehabt und habe seinen Fanatismus über Jahre gepflegt und ausgebaut.

All dies reicht nicht, um eine so unglaubliche Tat wie das Massaker, das Breivik angerichtet hat, zu verstehen. Aber es gibt das Phänomen des Amok-Laufes offenbar schon seit Jahrtausenden. Die Häufigkeit sei dabei erstaunlich konstant.

Breivik habe dann zunächst diese Bombe gezündet. Er habe im Gerichtssaal berichtet, er habe im Radio gehört, dass acht Menschen dabei gestorben seien. Da habe er sich entschieden, auf die Insel zu gehen und weitere Menschen zu töten. Hätte die Bombe mehr als 10 Menschen getötet, wäre er nicht auf die Insel gegangen. 

Auch zwei Jahre nach dem Massaker zeige Breivik nicht einen Anflug von Reue. 

Kann die Psychiatrie nun helfen, solche unfassbaren Gewaltexzesse wie den von Breivik verübten zu verstehen? 

Die Antwort von Prof. Malt war: 

„Sie soll es versuchen.“  
„Aber es wird ihr wohl niemals gelingen, dieses Verhalten wirklich zu verstehen.“

Für mich hat der Vortrag gezeigt, dass psychiatrische Klassifikationssysteme dafür geschaffen sind, häufige Krankheiten zu kategorisieren. Sie sind aber nicht dafür geschaffen, Amokläufer zu beschreiben. Sie sind dafür auch völlig ungeeignet. Dass es keine Diagnose gibt, in die Breivik wirklich paßt, weder in die Schublade „Psychotisch“, noch in die Schublade „Narzisstischer und fanatischer Asperger“, noch in die Schublade „Gesund, aber böse“, ist für mich nicht überraschend. Man kann auch nicht mit dem Klassifikationssystem für Schmetterlinge das Aussterben der Dinosaurier verstehen. 

Unser ICD-10 Klassifikationssystem ist nicht dafür gemacht. Werfen wir ihm nicht vor, dass es im Falle von Breivik gänzlich unpassend ist.

Ist Breivik fanatisch oder psychotisch?

Die Taten könnten nicht schrecklicher sein. Sie könnten nicht sinnloser sein. Und der Wunsch nach einer gerechten Strafe könnte nicht größer sein. Andreas Breivik hat mit seinen rechtsterroristischen Anschlägen sehr viel Leid verursacht. Seine krude Gedankenwelt stellt er im Internet dar, sein 1518 seitiges Manifest kann man zum Beispiel hier nachlesen. Ich habe es nicht zu wesentlichen Teilen gelesen, nur einen Eindruck von der kruden Gedankenwelt gewonnen, es ist nur mühsam lesbar.
Damit das Gericht nun ein gerechtes Urteil fällen kann, muss es beurteilen, ob Breivik gesund und schuldfähig ist, oder ob er krank und für seine Taten schuldunfähig ist. Rechtsphilosophisch könnte es kaum einen größeren Unterschied geben. In der Konsequenz allerdings wird der Unterschied weniger erheblich sein.
Im Fall „Schuldfähig“, wird er die norwegische Höchststrafe für Mord von 21 Jahren erhalten mit anschließender Sicherungsverwahrung. Also voraussichtlich bis an sein Lebensende in einem gut gesicherten Gefängnis bleiben.
Im Fall „Schuldunfähig“, kommt er in eine gut gesicherte forensische Klinik, wird alle paar Jahre begutachtet, und wird voraussichtlich ebenfalls zeitlebens nicht mehr herauskommen.
Und nun der Auftritt der Forensischen Psychiatrie. Im ersten Gutachten Ende November 2011 wurde er für psychotisch während der Tat, psychotisch bei der ausführlichen Untersuchung und in der Konsequenz für schuldunfähig erklärt. Die Öffentlichkeit war wenig begeistert. Im zweiten Gutachten, das der Öffentlichkeit am Dienstag vorgestellt wurde, wurde er als narzistisch diagnostiziert, aber nicht psychotisch. Also schuldfähig. Breivik selbst gefällt dieses Gutachten. Und viele empfinden es als angemessener.
Die Grenze zwischen fanatisch, aber schuldfähig auf der einen Seite und wahnhaft überzeugt, psychotisch und nicht schuldfähig auf der anderen Seite ist im Falle Breivik sicherlich schwer zu ziehen. Ich persönlich würde mich wohler fühlen, wenn die Einschätzung fanatisch und schuldfähig stimmen würde. Ich weiß es aber nicht, vielleicht ist er wirklich psychotisch, dann müßte er auch so beurteilt und behandelt werden.
Was aber unausweichlich kommen wird ist, dass das Ansehen der forensischen Psychiatrie einen Knick erhalten wird. In so einer extrem wichtigen Frage so komplett gegenteilige Gutachten zu erhalten macht nicht den Eindruck, dass die Urteilsbildung auf reproduzierbaren, untersucherunabhängigen Erkenntniswegen beruht und das sich die abschließende Einschätzung allein auf die gewonnenen Erkenntnisse stützt. Es zeigt vielmehr, dass es Fälle gibt, in denen abgewogen und normativ entschieden werden muss, ob eine bestimmte Gedankenwelt nun als krank oder lediglich fanatisch einzuordnen ist. Der Fall Breivik ist nun einmal leider so ein Fall. Und das Gericht hat die schwere Aufgabe, diese Entscheidung am Ende der Hauptverhandlung zu treffen.
In der öffentlichen Meinung wird mit einiger Wahrscheinlichkeit das Bild hängen bleiben, dass ein forensisches Gutachten ja viel sagen kann. Aber wenn es nicht erwünscht ist, kann man auch ein neues Gutachten anfordern, das dann das genaue Gegenteil schreibt. Im Fall Breivik ist es so gewesen.
Hoffentlich bleibt in der öffentlichen Meinung auch die Erkenntnis zurück, dass das Gericht eine Abwägung der unterschiedlichen Einschätzungen und Wertungen durchführt. Und das dieser normative Vorgang auch richtigerweise bei den Richterinnen und Richtern liegt, die das Urteil sprechen werden. Es wird eine schwierige Abwägung werden.

Breivik soll erneut psychiatrisch begutachtet werden

Das zunächst erstattete Schuldfähigkeitsgutachten hatte in einer sehr gründlichen Arbeit die lange und intensive Untersuchung des Angeklagten sowie das Studium der von ihm angefertigten Schriften gewürdigt und war zu der Einschätzung gekommen, Breivik leide an einer paranoiden Psychose und sei schuldunfähig. Das kann sein, unabhängig davon, ob es der öffentlichen Meinung, dem Empfinden der Angehrigen oder der Einschätzung der Kammer entspricht.

Ein zweites Gutachten in Auftrag zu geben ist ein Schritt, der zuerst einmal überrascht. Hätte es eine inhaltliche Begründung gegeben, wäre er leichter nachvollziehbar gewesen. Das war aber offenbar nicht möglich, da das erste Gutachten es nicht an Sorgfalt hat mangeln lassen. So gibt die Kammer nur an, das große öffentliche Interesse rechtfertige dieses Vorgehen.
So muß der Eindruck entstehen, es würde so lange ein neues Gutachten in Auftrag gegeben, bis die Einschätzung des Gutachters der Einschätzung der Kammer entspricht. Das ist zunächst einmal wenig überzeugend.
Andererseits war die Einschätzung, die Taten seien Ausdruck einer Psychose, tatsächlich sehr überraschend. Zwar können wahnhaft Schizophrene bestimmte Taten jahrelang vorbereiten, es ist aber nicht wirklich typisch. Das hohe Maß an Organisiertheit, Brutalität und pseudoideologischer Erklärungswut, die Breivik gezeigt hat, schließt zwar eine wahnhafte Störung nicht aus, paßt aber eigentlich besser zu einem Fanatiker, der sonst üblicherweise als schuldfähig eingeschätzt wird.
Insofern kann es klug gewesen sein und am Ende der Rechtsfindung sehr dienlich gewesen sein, ein zweites Gutachten zu beauftragen. In der Hauptverhandlung sollten dann natürlich beide Gutachten ausführlich gehört werden und am Schluß abgewogen werden, welche Einschätzung plausibler ist. Und das ist dann auch juristisch in Ordnung.