Welches Antidepressivum gebe ich wem? Jetzt auch als Video verfügbar

Der Post „Welches Antidepressivum gebe ich wem?“ wurde hier auf dem Blog ja ausführlich diskutiert und ich bedanke mich noch einmal sehr herzlich für die Rückmeldung. Ich habe die Ergebnisse auch als Video aufgezeichnet. Welche Form mögt ihr lieber? Welche Themen mögt ihr lieber im Blog, was eignet sich gut als Video und wann ist beides sinnvoll? Schreibt eure Vorlieben mal hier in die Kommentare!

Agomelatin (Valdoxan®)

Geschichte

Antidepressiva sind üblicherweise Selektive-Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) oder Selektive-Serotonin-und-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) oder leichte Variationen zu diesem Thema. Diese Substanzen sind sehr bewährt, sie werden seit Jahrzehnten als Medikamente der ersten Wahl bei Depressionen, Ängststörungen und Zwängen erfolgreich eingesetzt. Das Interesse ist natürlich sehr groß, wenn ein neuartiges Antidepressivum auf den Markt kommt, das ein komplett anderes Rezeptorbindungsprofil hat. Ein ganz andersartiges Medikament könnte bei Patienten wirken, bei denen SSRI oder SNRI nicht gut helfen und man könnte sich ein anderes und besser verträgliches Nebenwirkungsprofil vorstellen. Im Jahr 2009 hat Servier Agomelatin als Valdoxan® in Deutschland auf den Markt gebracht.

Pharmakologie

Agomelatin ist ein leicht modifiziertes synthetisches Analogen des menschlichen Hormons Melatonin. Melatonin hat einen wesentlichen Einfluss auf den Tag-Nacht-Rhythmus. In den USA ist Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel in Supermärkten und Drogerien frei verkäuflich und wird dort vor allem beworben als Mittel gegen jet-lag, Schlafstörungen und zur Prophylaxe der Migräne. In der EU ist es unter dem Namen Circadin zur kurzfristigen Behandlung von Schlafstörungen bei Patienten ab 55 Jahren zugelassen, hier aber rezeptpflichtig. Agomelatin ist ein chemisch stabileres Analogon des Melatonins. Wie Melatonin wirkt es agonistisch an den Melatonin MT1 und MT2 Rezeptoren. Darüber hinaus wirkt es schwach antagonistisch auf die serotonergen 5HT2C-Rezeptoren im Nucleus suprachiasmaticus, und soll so die „innere Uhr“ des Menschen beeinflussen und circadiane Rhythmen resynchronisieren. Diese 5HT2C-Hemmung soll auch zum antidepressiven Effekt beitragen. Auch Mirtazapin, Mianserin und Amitriptylin wirken unter anderem antagonistisch am 5HT2C-Rezeptor.

Studienlage

Laut Wikipedia-Eintrag zu Agomelatin gab es sechs Zulassungsstudien, von denen zwei eine Überlegenheit von Agomelatin gegenüber Placebo zeigten; in zwei Studien lagen Agomelatin und Placebo gleichauf und eine Studie verlief negativ. In einer Metaanalyse dieser Studien ergab sich gegenüber Placebo eine Differenz von 1,5 Punkten auf der Hamilton-Depressionsskala. Das britische NICE postuliert für eine klinisch relevante Wirksamkeit eines Antidepressivums im Plazebovergleich jedoch eine Differenz von mindestens 3 Punkten. Die SSRI schneiden mit einem Unterschied von 1,8 Punkten im indirekten Vergleich etwas besser, aber auch nicht gut ab. (Quelle: Arzneimittel-Telegramm). In vier weiteren Studien wurde Agomelatin mit Venlafaxin, Sertralin und Fluoxetin verglichen. Hierbei schnitt es bezüglich der antidepressiven Wirkung gleich ab, bezüglich der Qualität des Einschlafend sogar besser. In einer Langzeitstudie über 34 (bis 52) Wochen zeigte sich kein Unterschied zwischen Agomelatin und Placebo. In einer zweiten, sechsmonatigen Studie zur Rückfallprophylaxe erlitten Patienten, die nach anfänglichem Ansprechen von Agomelatin auf ein Placebo umgestellt wurden, nach sechs Monaten signifikant häufiger Rückfälle (46,6 %) als jene Patienten, die weiterhin Agomelatin einnahmen (21,7 % Rückfälle).

Klinische Anwendung

In Deutschland ist Agomelatin in der Indikation Depressionen zugelassen, nicht aber als Schlafmittel. In den Jahren nach der Zulassung wurde Agomelatin zunächst recht optimistisch eingesetzt, in der Hoffnung, ein wirksames Antidepressivum mit wenig Nebenwirkungen zu haben. Die anfängliche Begeisterung für Agomelatin hat sich inzwischen deutlich gelegt. Bei schweren Depressionen wird es kaum eingesetzt. Am ehesten wird es bei leichten bis mittleren Depressionen mit ausgeprägten Schlafstörungen eingesetzt. Auch eine Kombination mit klassischen SSRI ist nicht selten.

Dosierung

Man gibt in den ersten zwei Wochen täglich 25 mg zur Nacht. Wenn sich nach zweiwöchiger Behandlung keine Besserung der Symptomatik einstellt, erhöht man die Dosis auf 50 mg zur Nacht. Dies ist die Höchstdosis.

Unerwünschte Wirkungen

Agomelatin ist mit der Gefahr des Anstiegs bestimmter Leberwerte, der Transaminasen behaftet. Ein Anstieg dieser Werte kann auf eine Schädigung der Leber hinweisen. Daher sollen laut Fachinfo bei allen Patienten, die Agomelatin erhalten, vor Beginn, nach 3 Wochen, nach 6 Wochen, nach 12 Wochen, nach 24 Wochen und danach in sinnvollen Abständen weiterhin die Leberwerte kontrolliert werden. Nach einer Dosissteigerung sollen erneut die gleichen Kontrollintervalle wie bei einer Neueinstellung eingehalten werden. Patienten mit Leberfunktionsstörungen sollen kein Agomelatin erhalten. Die EMA hat jüngst gefordert, dass Agomelatin älteren Patienten ab 75 Jahren nicht mehr verordnet werden soll, da das Verhältnis aus zu erwartendem Nutzen und zu befürchtendem Schaden negativ sei. Der Warnhinweis des Herstellers für medizinisches Fachpersonal zur Hepatotoxizität von Agomelatin findet sich hier.

Mein persönliches Fazit

Aufgrund der Pharmakologie war ich bezüglich der antidepressiven Potenz von Agomelatin von Anfang an skeptisch. Ganz im Vordergrund steht ein Agonismus an den Melatoninrezeptoren. Dieser Mechanismus ist nicht bekannt für eine antidepressive Wirkung. Er steht eher im Zusammenhang mit einer Beeinflussung des Tag-Nacht-Rhythmus, was eine Wirksamkeit als Schlafmittel plausibel machen würde. Die ersten Studien waren auch nicht besonders überzeugend. Meine bisherigen Verschreibungen und Beobachtungen haben bislang mein Bild nicht wesentlich verändert. Agomelatin kann den Schlaf etwas verbessern, was in den üblichen Depressionsskalen (z.B. auch der in den Studien verwendeten HAMD) schon eine Verbesserung bringt. Zur Behandlung leichter Depressionen mit einhergehenden Schlafstörungen mag es geeignet sein. Eine überzeugende Wirkung bei schweren Depressionen habe ich bislang nicht beobachtet. Nachdem die Hinweise auf Leberfunktionsstörungen sich gehäuft haben, ist mit der Verordnung nun die Verpflichtung zu recht häufigen Blutentnahmen hinzu gekommen.

Eure Erfahrungen?

Wie sind eure Erfahrungen mit Agomelatin? Verschreibt ihr es häufig? Mit welchem Erfolg? Hat jemand es schon einmal eingenommen? Wie hat es gewirkt? Schreibt eure Erfahrungen in die Kommentare!

Copyright

 

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.