Alles, was Du über das Medikament Lithium wissen möchtest…

Ich habe unlängst das Video „Alles, was Du über das Medikament Lithium wissen möchtest“ gepostet. Durch die erneute Beschäftigung mit dem Thema und auch durch Eure Kommentare habe ich mein Wissen hierzu noch mal frisch geordnet. Das Kapitel zu Lithium in der aktuellen Auflage meines Buches Psychopharmakotherapie griffbereit enthält zwar die wichtigsten Punkte, ich habe es aber umformuliert und an einigen Stellen erweitert. Inhaltlich habe ich insbesondere dazu genommen, dass Lithium dann seine beste Anwendung findet, wenn die betroffene Patient:in auch manische Phasen hatte, kein:e rapid-cycler:in ist und eine gesunde Nierenfunktion hat. Im Video habe ich fälschlich gesagt, dass sich eine Schilddrüsenfunktionsstörung an einem erniedrigten TSH zeigt, richtig ist natürlich, dass sich dies an einem erhöhten TSH zeigt.

Ich habe das Kapitel für die nächste Auflage des Buches (die aber nicht vor 2023 kommen wird) überarbeitet, besser lesbar gemacht und übersichtlicher gestaltet. Wie es gute alte Tradition ist, veröffentliche ich hier den Textentwurf (dieser Text steht daher ausnahmsweise unter Copyright). Ich bitte euch, mir Rückmeldung zum Text zu geben, auf Fehler oder Unvollständigkeiten hinzuweisen und mir zu sagen, wie ich es verständlicher beschreiben könnte.

Ansonsten: viel Spaß mit diesem Kapitel zu Lithium!

5.3.1 Lithium

Lithium

  • nimmt etwa jeder tausendste Mensch weltweit ein.
  • ist sehr gut wirksam zur Behandlung akuter manischer Episoden.
  • ist in den meisten Fällen das wirkstärkste Phasenprophylaktikum zur Prophylaxe depressiver und manischer Phasen im Rahmen einer Bipolaren Störung.
  • kann auch im Sinne einer Augmentation in der Therapie einer schwer behandelbaren Depression eingesetzt werden.

Lithium gehört zu den am häufigsten verordneten Medikamenten weltweit. Es gilt als das Phasenprophylaktikum mit der stärksten Wirkung. Das bedeutet, dass bipolare Patienten unter einer Behandlung mit Lithium weniger häufig und weniger stark ausgeprägte manische und depressive Episoden erleiden. Die beste Wirkung entfaltet es bei Patienten, die im Rahmen ihrer bipolaren Erkrankung auch manische Phasen haben. Beim rapid-cycling ist es nicht Mittel der ersten Wahl, hier ist Valproat besser geeignet.

Lithium hat ein enges „therapeutisches Fenster“, das heißt der Dosierungs-Abstand zwischen guter Wirkung und Nebenwirkungen ist gering. Unverträglichkeiten und Überdosierungen zeigen sich oft zuerst durch Zittern der Hände und Unruhe.

Pharmakologie

Lithium hat mehrere recht unterschiedliche Wirkmechanismen, die allerdings noch nicht vollständig aufgeklärt sind. Die antidepressive Wirkung von Lithium könnte mit seiner serotonergen Komponente zusammen hängen. Die phasenprophylaktische Wirkung wird vermutlich durch eine Stabilisierung chronobiologischer Rhythmen vermittelt.

Lithium wird in der Leber nicht verstoffwechselt, sondern unverändert über die Niere ausgeschieden. Deswegen wirken sich Nierenerkrankungen recht stark auf den Lithium-Spiegel aus. Da das therapeutische Fenster eng ist, führt dies wiederum schnell zu symptomatischen Nebenwirkungen wie dem Händezittern.

Klinischer Einsatz

Am bekanntesten ist Lithium sicher für seine phasenprophylaktische Wirkung. Bipolare Patienten, die Lithium dauerhaft einnehmen, haben deutlich weniger manische und weniger depressive Phasen, auch die Schwere der einzelnen Phasen ist geringer. Dabei ist es besonders gut phasenprophylaktisch wirksam bei Patienten, die

  • eher häufiger Manien oder Hypomanien hatten,
  • kein rapid-cycling haben
  • eher keine gemischten Episoden und
  • eine normale Nierenfunktion haben.

Lithium schützt dabei besser vor manischen als vor depressiven Phasen1. Insgesamt ist die Studienlage konsistent, dass Lithium eine sehr gute phasenprophylaktische Wirksamkeit hat und anderen Phasenprophylaktika ebenbürtig oder überlegen ist2. Eine Ausnahme stellen allerdings Patienten mit rapid-cycling dar, sie profitieren eher von Valproat.

Die zweite Indikation von Lithium ist die akute manische Episode. Hier wirkt es schnell und verlässlich antimanisch3. In dieser Situation kombiniert man es am besten mit einem Antipsychotikum.

Und schließlich hat Lithium sich bewährt in der Augmentation bei unipolaren und bipolaren Depressionen.

In der Psychiatrie gehen die bipolaren Störungen mit dem höchsten Risiko für einen Suizid einher. Lithium hat in Studien wiederholt gezeigt, dass es eine gute antisuizidale Wirkung hat 4. Dies ist nicht selten der Grund, Lithium in der Augmentation bei Depressionen einzusetzen; aber auch in der Phasenprophylaxe ist dies ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von anderen Phasenprophylaktika.

Dosierung

Lithium wird nicht nach der Dosis, sondern immer nach dem Blutspiegel dosiert. Dabei gelten je nach Indikation unterschiedliche Zielbereiche.

  • Therapie der akuten Manie: Bei einer ausgeprägten Manie (Verkürzter Schlaf, beschleunigter Gedankengang, enthemmtes Verhalten, maniform gereizte Stimmung usw.), die stationär behandelt wird, strebe ich einen Lithium-Spiegel von 1 bis 1,2 mmol/l an. Bei diesem recht hohen Spiegel ist ganz besonders engmaschig die Verträglichkeit zu prüfen. Blutspiegelmessungen sollten in der Aufdosierungsphase bei stationärer Behandlung alle 3–5 Tage durchgeführt werden. So kann man beispielsweise am ersten Tag eine Tablette Lithium geben, am zweiten bis vierten Tag zwei Tabletten pro Tag, am vierten Tag den Spiegel bestimmen und dann gegebenenfalls je nach Spiegel weiter steigern. Der Blutspiegel von Lithium verhält sich bei einem nierengesunden Patienten meist ziemlich dosislinear, das heißt, die doppelte Dosis führt bei diesem Patienten auch zu einem ungefähr doppelt so hohen Blutspiegel.
  • Bei einer hypomanen Episode mit Symptomen wie gestörtem Schlaf, Umtriebigkeit, expansivem Verhalten, Kritikminderung, aber geordnetem Gedankengang und wenig maniform gereiztem Affekt, strebe ich einen Spiegel von etwa 0,8 mmol/l an.
  • Zur reinen Phasenprophylaxe in Abwesenheit jeder Symptomatik ist in der Regel ein Spiegel von etwa 0,6 mmol/l ausreichend. Hier ist die individuelle Wirksamkeit relevant. Diese muss durch eine langfristige Beobachtung festgestellt werden. Je langsamer man Lithium aufdosiert, desto seltener treten Nebenwirkungen auf. Bei einer geplanten Eindosierung kann man alle paar Tage um 225 mg/Tag steigern, bis ein Spiegel von 0,5–0,7 mmol/l erreicht ist. Dies ist oft bei einer Dosis von 675–1125 mg/Tag der Fall.
  • Zur Augmentation der Therapie bei unipolarer oder bipolarer Depression ist in der Regel ein Blutspiegel von nicht mehr als 0,6 mmol/l ausreichend. In dieser Indikation wird Lithium in den Leitlinien sehr wohl empfohlen, aber nicht so häufig eingesetzt. Dabei kann es hier manchmal eine deutliche Verbesserung der Symptomatik bringen. Dosis und Blutspiegel sollten aber so niedrig gewählt werden, dass keine relevanten Nebenwirkungen entstehen.
  • Bei Nierenfunktionsstörungen und bei älteren Menschen muss die Therapieentscheidung besonders sorgsam überlegt sein; die Dosierungen liegen hier deutlich niedriger und es müssen häufigere Spiegelkontrollen erfolgen.

Nebenwirkungen

Lithium kann – insbesondere bei zu hoher Dosierung – ausgeprägte Nebenwirkungen verursachen. Bei zu hohen Blutspiegeln treten Zittern und Unruhe auf, später auch Farbsehstörungen, bei noch höheren Blutspiegeln auch Vigilanzminderungen. Lithium kann die Schilddrüse, die Nebenschilddrüse und die Niere schädigen. In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2012 im Lancet5 stellt sich das Nebenwirkungsprofil von Lithium besser dar, als sein Ruf früher war, es gibt aber weiterhin einige Bereiche, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.

  • Schilddrüse: Es ist lange bekannt, dass Lithium die Schilddrüse in ihrer Funktion hemmen kann. Im Labor zeigt sich dies an einem leicht erhöhten TSH, klinisch zeigen sich manchmal eine zunehmende Mattigkeit und Erschöpfung. Wenn TSH erhöht ist, bestimmt man die freien Schilddrüsenhormone fT3 und fT4; sind diese erniedrigt, substituiert man niedrigdosiert L-Thyroxin. Meistens reicht eine Dosis bzw. Dosiserhöhung von 12,5 µg bis 25 µg aus. Im Weiteren kontrolliert man die Schilddrüsenwerte dann alle Monate.
  • Nebenschilddrüse: In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Lithium nicht selten auch die Nebenschilddrüse in ihrer Funktion beeinträchtigen kann. Aus diesem Grund soll der Kalziumwert vor Beginn der Behandlung mit Lithium und dann im weiteren Verlauf regelmäßig kontrolliert werden.
  • Niere: Lithium kann bei langjähriger Behandlung die Niere schädigen. Die Fähigkeit, den Urin zu konzentrieren, kann durch Lithium reduziert werden. Daher sind vor Beginn der Behandlung und im weiteren Verlauf die berechnete Glomeruläre Filtrations-Rate (eGFR) zu bestimmen. Bei gleichzeitig bestehenden Nierenerkrankungen sollte unbedingt eine Absprache mit dem behandelnden Nephrologen stattfinden. In der oben genannten Metaanalyse wird berichtet, dass sich in einer kleineren Studie ergeben habe, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Nierentransplantation zu benötigen, die in der Normalbevölkerung 0,2 % betrage, bei langfristig mit Lithium behandelten Patienten auf 0,5 % ansteige. Das wäre meines Erachtens allerdings eine sehr hohe Quote.
  • Gewichtszunahme: Früher galt es als gesicherte Erkenntnis, dass Lithium zu einer deutlichen Gewichtszunahme führen kann. In einer Vergleichsstudie zur Gewichtszunahme unter Placebo, Lamotrigin und Lithium (Bowden et al. 20066) nahmen durch Lithium allerdings nur die adipösen Patienten mit plus 6 Kg mehr zu als die Placebo- oder Lamotrigingruppe. Bei den normalgewichtigen Patienten lag die Gewichtszunahme durch Lithium lediglich 1 Kg höher als bei den mit Placebo oder Lamotrigin behandelten Patienten. In meiner eigenen Erfahrung spiegelt sich das so wieder, dass ich viele Patienten kenne, die gar keine oder nur eine geringfügige Gewichtszunahme unter Lithium haben, es gibt aber auch welche, die bis zu 10 Kg zugenommen haben. Ob die Trennlinie wirklich das Gewicht vor Beginn der Behandlung mit Lithium ist, kann ich nicht sicher sagen.

Lithium in der Schwangerschaft und Stillzeit

In dieser Metaanalyse zeigten sich weniger Hinweise auf eine erhöhte Teratogenität (s. Glossar) als früher angenommen wurde, sodass eine Lithium-Behandlung von Frauen mit Kinderwunsch und in der Schwangerschaft nach Aufklärung, Beratung und sorgfältiger Abwägung nun erwogen werden kann.

Heute geht man davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit für kardiovaskuläre Fehlbildungen im 1. Trimenon etwa um das 10-Fache gegenüber der Normalbevölkerung erhöht ist. Im zweiten und dritten Trimenon ist die Gefahr von Fehlbildungen niedriger als im ersten Trimenon, aber auch hier sind Nutzen und Gefahren sorgfältig gegeneinander abzuwägen.

Patientinnen, die während einer Behandlung mit Lithium schwanger werden, sollten das Medikament nicht gleich absetzen, sondern in Ruhe ein Gespräch mit ihrem Behandler suchen. Wenn die Indikation richtig ist, geht die Empfehlung heutzutage eher dahin, niedrigere Spiegel anzustreben, die Spiegel in sehr kurzen Zeitintervallen zu bestimmen, aber das Medikament nicht abzusetzen. Die Geburt selbst wird durch Lithium nicht beeinflusst. Nach der Geburt rät man in aller Regel zum Abstillen, da Lithium in die Muttermilch übergeht.

Sinnvolle Laboruntersuchungen

  • Vor Behandlungsbeginn: Routinelabor, Krea, eGFR, TSH, ß-HCG, Ca, EKG, KG.
  • Im ersten Monat: wöchentlich Li, Na, K, Ca, Krea.
  • Danach: monatlich Li, Na, K, Ca, Krea und quartalsweise zusätzlich TSH und Körpergewicht.

Blutspiegelbestimmungen werden normalerweise im steady-state und als Talspiegel bestimmt. Den steady-state erreicht man bei Lithium in der in Deutschland verfügbaren Retard-Formulierung nach etwa 5 Tagen. Den Talspiegel abzunehmen würde bedeuten, 24 Stunden nach der letzten Tabletteneinnahme, direkt vor der nächsten Tabletteneinnahme die Blutabnahme durchzuführen. Viele Patienten nehmen das retardierte Lithium als Einmalgabe abends, was sich bewährt hat, um Nebenwirkungen eher in die Nacht zu verlagern. Die Blutabnahme zur Lithium-Spiegelbestimmung erfolgt dennoch morgens, die hier und in der Literatur angegebenen Zielbereiche beziehen sich auch auf dieses übliche Vorgehen.

Mein persönliches Fazit

Lithium ist in meinen Augen deutlich wirkstärker als die anderen Phasenprophylaktika. Ich setze es daher als Therapie der 1. Wahl ein und halte mich an regelmäßige Spiegelkontrollen und eher niedrige Spiegel. Bei nur vermuteten Nebenwirkungen zu schnell auf ein anderes Phasenprophylaktikum umzusteigen, kann mit einem deutlichen Wirkverlust einhergehen. Es gilt die Regel: Vor dem Absetzen von Lithium immer erst einen erfahrenen Psychiater fragen!

Copyright

Dieser Beitrag ist ein Auszug oder eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

  1. Baldessarini RJ, Vázquez GH, Tondo L. Bipolar depression: a major unsolved challenge. Int J Bipolar Disord. 2020; 8:1. DOI: 10.1186/s40345-019-0160-1. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31903509
  2. Severus E, Bauer M, Geddes J. Efficacy and Effectiveness of Lithium in the Long-Term Treatment of Bipolar Disorders: An Update 2018. Pharmacopsychiatry. 2018; 51:173-176. DOI: 10.1055/a-0627-7489. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29898463
  3. McKnight RF, de La Motte de Broöns de Vauvert SJGN, Chesney E, Amit BH, Geddes J, Cipriani A. Lithium for acute mania. Cochrane Database Syst Rev. 2019; 6:CD004048. DOI: 10.1002/14651858.CD004048.pub4. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31152444
  4. Baldessarini RJ, Vázquez GH, Tondo L. Bipolar depression: a major unsolved challenge. Int J Bipolar Disord. 2020; 8:1. DOI: 10.1186/s40345-019-0160-1. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31903509
  5. McKnight RF, Adida M, Budge K et al. Lithium toxicity profile: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2012; 379: 721–728. doi:10.1016/S 0140-6736(11)61516-X
  6. Bowden CL, Calabrese JR, Ketter TA, Sachs GS, White RL, Thompson TR. Impact of lamotrigine and lithium on weight in obese and nonobese patients with bipolar I disorder. Am J Psychiatry. 2006; 163:1199-1201. DOI: 10.1176/appi.ajp.163.7.1199. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16816224

Rezidivprophylaxe bei der bipolaren Störung: Valproat bei Frauen im gebärfähigen Alter nur noch nach schriftlicher Aufklärung

Valproat Aufklärungsbogen

Bild oben: Screenshot vom neuen verpflichtenden Aufklärungsbogen über die Risiken der Behandlung von Frauen im gebärfähigen Alter mit Valproat

Die Rezidivprophylaxe bei bipolaren Erkrankungen wird komplizierter. Es gibt zwar eine Reihe von wirksamen Substanzen, aber in den letzten Jahren haben sich bei den wichtigsten Vertretern neue Erkenntnisse über Nebenwirkungen ergeben, die bei der Auswahl des geeigneten Präparates beachtet werden müssen.
An neuen Erkenntnissen ist insbesondere hinzugekommen:

  • Während einer Schwangerschaft verabreichtes Valproat kann zu erheblichen Schäden beim Kind führen. Das BfArM hat daher einen Rote Hand-Brief hierzu herausgegeben und verlangt konsequenterweise die schriftliche Aufklärung über mögliche Gefahren. Außerdem stellt es diese Patienteninformation zur Verfügung.
  • Lithium kann bei jahrelanger Anwendung möglicherweise Nierentumore auslösen.

Doch der Reihe nach:

Wann braucht ein Patient eine Rezidivprophylaxe der bipolaren Störung?

Bei der Bipolaren Störung wechseln sich über die Jahre mehrere depressive Episoden, manche manische Episoden und viele Phasen der Gesundheit immer wieder ab. Ziel der Rezidivprophylaxe ist es, die Anzahl der depressiven und manischen Episoden innerhalb eines Beobachtungszeitraumes von mehreren Jahren zu reduzieren und deren Stärke zu mindern. Wenn also ein Patient innerhalb von 10 unbehandelten Jahren 4 schwere depressive Phasen, eine schwere Manie und drei leichte depressive Phasen hätte, dann kann man hoffen, dass er durch eine Medikation mit einem Phasenprophylaktikum vielleicht während eines 10-jährigen behandelten Zeitraumes nur zwei leichte depressive Phasen und eine hypomane Phase haben würde.

Wogegen helfen die auch „Stimmungsstabilisatoren“ genannten Phasenprophylaktika nicht?

Meiner persönlichen Einschätzung nach helfen alle hier diskutierten Substanzen überhaupt gar nicht bei Stimmungsschwankungen, die über den Tag oder eine Spanne von einigen wenigen Tagen hinweg auftreten. Viele Patienten, gerade solche mit einer Borderline-Erkrankung, einer impulsiven Störung oder auch Teenager leiden sehr wohl unter instabiler Stimmung. Aber meiner Einschätzung nach bewirken Phasenprophylaktika hier leider nichts. Dennoch werden sie in dieser Hoffnung sehr oft verordnet. Wenn jemand mich auf eine geeignete Meta-Studie hinweisen kann, die mich davon überzeugt, dass ich im Unrech bin: Bitte gerne!

Welche Substanzen sind meiner Meinung nach wie wirksam in der Phasenprophylaxe?

In meiner persönlichen Einschätzung, die ich nicht anhand von Studien untermauern kann, sind die am häufigsten eingesetzten Substanzen ungefähr geschätzt subjektiv so wirksam: (Die Prozentzahlen sind als eine Art Wirksamkeitsskala gemeint; sie sagen nicht, dass von 100 Patienten so viele immer gesund bleiben…)

  • Lithium: 75 %
  • Valproat: 60 %
  • Carbamazepin: 50 %
  • Andere Antiepileptika (Topiramat, Pregabalin, etc): 30-40 %
  • Quetiapin: 0 %.

Also ich sage es hier noch mal ganz deutlich: Das sind meine persönlichen, vereinfachten Ansichten. Das ist nicht die objektive, endgültige Wahrheit. Und ich kann dazu keine ordentliche Studie nennen. Wenn jemand eine kennt: Bitte hier in die Kommentare. Suchen sollte man zunächst mal bei der Leitlinie zur Bipolaren Störung

Nebenwirkungen der Phasenprophylaktika

Lithium

Über Wirkungen und Nebenwirkungen des Lithiums habe ich schon mehrfach geschrieben, zum Beispiel hier und hier. Bekannt ist, dass Lithium zu Störungen der Schilddrüse, der Nebenschilddrüse und zu Nierenschädigungen führen kann. 0,5 % der mit Lithium behandelten Patienten sollen nach jahrelanger Behandlung eine Nierentransplantation brauchen, was in meinen Augen sehr viel ist. Die teratogene Gefahr von Lithium wurde über die Jahre immer wieder anders eingeschätzt, aktuell wird eher eine nur niedrige Gefahr angenommen. Neu diskutiert wird nun, dass eine langfristige Einnahme von Lithium (länger als 15 Jahre) fraglich die Entstehung von Nierentumoren begünstigen soll.

Valproat

Schon lange ist bekannt, dass Valproat zu einer erheblichen Gewichtszunahme führen kann. Als Enzyminhibitor kann es die Blutspiegel anderer Medikamente steigern. In den letzten Jahren ist zunehmend deutlich geworden, dass Valproat, wenn es in der Schwangerschaft gegeben wird, sehr häufig zu erheblichen Schädigungen des ungeborenen Kindes führen kann. Inzwischen geht man von folgenden Risiken für Kinder, die im Mutterleib Valproat ausgesetzt waren, aus:

  • 30-40 % zeigen schwerwiegende Entwicklungsstörungen wie Lernschwierigkeiten, reduzierte Intelligenz oder Symptome von Autismus oder ADHS.
  • 10 % entwickeln angeborene Missbildungen wie Neuralrohrdefekte.

Das BfArM hat daher inzwischen einen Rote-Hand-Brief zu Valproat herausgegeben. Valproat darf nun Frauen im gebärfähigen Alter nur noch gegeben werden, wenn andere Medikamente nicht gewirkt haben oder nicht vertragen worden sind. Eine sichere Verhütungsmethode soll empfohlen werden. Die Patientinnen müssen über die Risiken unmissverständlich aufgeklärt werden. Dafür hat das BfArM ein Musterformular entwickelt, das keine Unklarheiten läßt.

Carbamazepin

Carbamazepin ist ein klassischer Enzyminduktor und kann so den Blutspiegel bestimmter Medikamente bis zu deren Unwirksamkeit senken. Außerdem kann Carbamazepin manchmal zu Doppeltsehen, Schwindel und Hyponatriämien führen.

Fazit

  • Kein Phasenprophylaktikum ist unproblematisch. Man sollte daher nur noch dann eines verordnen, wenn die Indikation sicher gegeben ist. Die Hoffnung auf eine bessere affektive Stabilität über einen oder wenige Tage betrachtet gehört nach meiner Einschätzung nicht dazu.
  • Jeder Patient, der eine Phasenprophylaxe empfohlen bekommt, muss vernünftig über den möglichen Nutzen und mögliche Risiken aufgeklärt werden. Im Falle von Valproat bei Frauen im gebärfähigen Alter muss dies nun auf diesem Bogen dokumentiert werden und von beiden unterschrieben werden.
  • Lithium erscheint mir persönlich nach wie vor als das wirksamste Medikament. Man muss aber die Dosis sorgfältig am Blutspiegel orientieren, knapp wählen und soll die erforderlichen regelmäßigen Kontrolluntersuchungen einschliesslich Lithiumserumspiegel, TSH und Calzium durchführen. Die Patienten müssen darüber aufgeklärt werden, dass es Nierenschäden, im schlimmsten Fall Nierentumoren oder die Notwendigkeit einer Nierentransplantation verursachen kann. Nach Aufklärung und Risikoabwägung kann es nach gegenwärtigem Stand der Kenntnis auch Frauen im gebärfähigen Alter verordnet werden.
  • Valproat kann für Männer ein geeignetes Medikament sein. Für Frauen im gebärfähigen Alter ist es nicht mehr als Mittel der ersten Wahl zugelassen und sollte nach aller Möglichkeit durch eine Alternative ersetzt werden.
  • Carbamazepin erscheint zwar nicht als das allerwirkstärkste Medikament, ist aber in Monotherapie und bei langsamer Aufdosierung gut verträglich und erscheint recht sicher.

Psychotherapie jetzt auch bei Schizophrenie und Bipolarer Störung möglich

Laut Bericht des Ärzteblattes hat der GBA entschieden, dass Patienten mit einer Schizophrenie, einer schizotypen oder wahnhaften Störung oder einer Bipolaren Störung Anspruch auf Psychotherapie haben. Praktisch ging das auch bislang; der Psychotherapeut musste im Antrag allerdings eine andere Zielsymptomatik beschreiben, als die zugrunde liegende Erkrankung. So konnte er die Psychotherapie damit begründen, dass er beantragte, eine depressive Begleitsymptomatik bei bestehender Schizophrenie zu behandeln.

Bei der Schizophrenie ist die Studienlage eindeutig: Psychotherapie hilft hier.

Bei der bipolaren Störung ist mir die Studienlage nicht so gut bekannt, meines Wissens nach gibt es hier eher Studien, die zeigen, dass bezüglich der Phasenhäufigkeit Psychotherapie nicht wirksam sein soll. Praktisch erhalten Patienten mit einer bipolaren Störung natürlich dennoch genauso Psychotherapie wie depressive Patienten und erzielten dabei regelmäßig gute Erfolge. Denn der Erfolg einer Psychotherapie geht ja über den Endpunkt “Abnahme der Phasenhäufigkeit” hinaus und erstreckt sich natürlich auch auf die Bereiche der Krankheitsbewaltigung, der besseren Strukturierung der Rahmenbedingungen, um der Gesundheit leichter Raum zu geben und tausend andere Ziele. Und hier hilft Psychotherapie auf jeden Fall.

Es ist daher zweifellos nur zeitgemäß, dass nun auch bei den oben genannten Diagnosen Psychotherapie bewilligt werden kann, ohne dass vorher im Antrag eine fragwürdige Verrenkung erforderlich ist.