Es lebe die EU: Studienregister für Pharmastudien endlich eingeführt!

Europa

Da heißt es immer, die EU sei ein teurer Paragrafengenerator, der außer dem Euro und dem Glühbirnenverbot wenig Gutes geschaffen hat. Und dann gibt es sogar Leute, die das mit den Glühbirnen nicht verstanden haben und diesen alten Stromfressern hinterhertrauern… :-).

Jetzt hat die EU aber etwas wirklich extrem sinnvolles endlich verabschiedet. Sie zwingt Pharmafirmen, klinische Studien in ein Register einzutragen, bevor die Studie startet. Und nach Abschluss der Studie muss eine Zusammenfassung der Ergebnisse eingetragen werden, die für jedermann zugänglich ist.

Das löst ein riesengroßes Problem: Bislang war es  so, dass es einen großen publication bias gerade bei Pharmastudien am Menschen gegeben hat. Wenn eine Substanz für eine bestimmte Indikation ins Gespräch kommt, dann wurden beispielsweise 10 Studien zu dieser Substanz in dieser Indikation durchgeführt. 8 Studien haben vielleicht ergeben, dass die Substanz nichts bringt. 2 Studien haben ergeben, dass sie ganz ganz wenig, aber immerhin etwas bringt. Die Leiter der ersten acht Studien, in denen keine Wirksamkeit gefunden wurde, haben sich vielleicht gedacht: „Ach, damit komme ich eh nicht groß raus, ich veröffentliche das erst gar nicht. Man würde mir eh´nur vorwerfen, ich hätte zu wenig Probanden eingeschlossen.“ Von den beiden Studien, die eine geringe Wirksamkeit zeigen, wäre vielleicht eine wirklich zur Publikation angenommen worden, die andere wäre vielleicht irgendwo versandet. Dann wäre das später nachvollziehbare Ergebnis: „Es gibt eine Studie zu Substanz X in der Indikation Y, und die zeigt eine Wirksamkeit.“ Das ist der publication bias.

Dem publication bias kann man nur auf eine Art begegnen: Man muss verpflichtend festlegen, dass jede Pharmastudie vor der Durchführung öffentlich registriert, dokumentiert und abschließend in ihrem Ergebnis beschrieben wird. Genau das hat die EU nun endlich entschieden, für Pharmastudien am Menschen, die  innerhalb und außerhalb Europas durchgeführt werden.

Das ist wirklich ein großer Schritt, der die Sicherheit der Patienten schützt und die Qualität der Forschung am Menschen deutlich erhöht. Manchmal bin ich stolz, ein Europäer zu sein.

Quelle: Zeit-Artikel hier

Kirsch-Studie: Wirksamkeit der Antidepressiva

Kirsch Studie

Zu den Klassikern der psychiatrischen Forschung gehört neben der CATIE-Studie, über die ich hier berichtet habe, auch die Kirsch-Studie. Sie berichtet über eine vom englischen Psychologen I. Kirsch 2008 publizierte Meta-Analyse, die die Wirksamkeit antidepressiver Medikamente in Abhängigkeit vom Schweregrad der Depression untersucht. Eingegangen in diese Meta-Analyse sind alle Zulassungsstudien von vier ausgewählten Antidepressiva. Das Ergebnis ist, dass sich die Wirksamkeit der Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen    nicht signifikant vom Placebo-Niveau unterscheidet. Lediglich bei schwergradigen Depressionen ist die Medikation Placebo überlegen.

Die Arbeit im Original

Das Original der Studie könnt ihr hier herunterladen, und ich empfehle, das zu tun und die Studie einmal aufmerksam zu lesen.

Methode

Die Meta-Analyse von Kirsch bezieht dabei für die Antidepressiva Fluoxetin, Venlafaxin, Nefazodon und Paroxetin alle eingereichten Zulassungsstudien ein, also die veröffentlichten wie die unveröffentlichten.

Eines der größten Probleme im Prozess des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnes ist der publication bias. Dieser ergibt sich aus der Fehlerquelle, dass Studien, die eine Wirksamkeit eines Medikamentes zeigen, mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit publiziert werden, als Studien, die keine Wirksamkeit zeigen. Untersucht man dann nur die publizierten Studien, kommt man selbst bei einem Präparat, dass viele Nachweise der Unwirksamkeit hat, von denen keine publiziert ist, und einen Hinweis auf Wirksamkeit, das publiziert ist, zum Ergebnis, es ist wirksam. Denn es gibt ja nur eine publizierte Studie, und die zeigt Wirksamkeit.

Ergebnisse

Ergebnisse Kirsch Studie
Ergebnisse Kirsch Studie

Auf der Grafik oben ist nach rechts die Schwere der Depression zu Beginn der Studie aufgetragen. Auf der nach oben zeigenden Achse ist die Verbesserungsrate der einzelnen Studien aufgetragen, wobei ein Wert von 1 keiner Verbesserung entspricht, Werte über 1 einer Verbesserung und Werte unter 1 einer Verschlechterung am Ende der Studie, jeweils gemessen am HAMD.  Als rote Dreiecke um die rote Durchschnittslinie sind die Daten der Antidepressivagruppen aufgezeichnet, als weiße Punkte um deren gestrichelte Durchschnittslinie sind die Placebogruppen aufgezeichnet. Jedes Dreieck und jeder Kreis steht für eine Studie. Je größer Dreieck oder Kreis sind, desto größer war die zugrunde liegende Studie und desto mehr ging sie in das Endergebnis ein.

Die Ergebnisse der Meta-Analyse von Kirsch sind ernüchternd. Die Grafik zeigt, dass die Wirkung der Antidepressiva erst im Bereich der sehr schweren Depressionen (ganz rechts, ab einem HAMD von > 28) signifikant besser ist als die von Placebo. Und dies geht weniger auf eine zunehmende Wirkung der Medikation bei zunehmender Schwere der Depression zurück als vielmehr auf eine abnehmende Placebowirkung bei schwereren Depressionen.

Kontroverse

Die Studie von Kirsch führte zu einer lebhaften Kontroverse. Viele Stimmen kamen auf, die ausführten, dass man aufgrund methodischer Einschränkungen die Ergebnisse der Studie nicht auf die tatsächliche Wirksamkeit von Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen übertragen könne. Dabei muss man schon sagen, dass einige dieser Stimmen auch regelmäßig von Pharmafirmen Vortragshonorare erhalten… Auch die klinische Erfahrung spreche gegen die Aussage der Studie. Auch handelt es sich bei den untersuchten Substanzen mit Ausnahme des Venlafaxins um alte und eher nicht so prominente Substanzen. Möglicherweise sind die neueren Antidepressiva ja wirkstärker.

Einige wenige sagten auch: „An der Kirsch-Studie kann am Schluss vielleicht auch was dran sein…“

Meine Meinung

Placebos wirken bei Schmerzen, Ängsten, Depressionen, Schlafstörungen und bei sehr vielen anderen ordentlichen Krankheiten gar nicht mal so schlecht. Ich verschreibe keine Placebos, aber in allen Studien zeigt sich, dass sie eine recht deutliche Wirkung haben. Und das ist natürlich völlig in Ordnung und gar nicht verwerflich. Gibt man ein Antidepressivum, hat es zunächst mal auch den Effekt, den ein Placebo hätte, plus den Effekt seiner eigentlichen substanzspezifischen Wirksamkeit.

Der Unterschied zwischen Antidepressiva und Placebo ist bei leichten und mittelschweren Depressionen möglicherweise nicht so groß, wie wir uns das immer wünschen. Bei schweren Depressionen wirken die Antidepressiva tatsächlich besser als Placebo. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass bei schweren Depressionen Placebos nicht sehr viel bewirken.

Es ist sehr wichtig, sich klar zu machen, dass Antidepressiva gerade bei leichten und mittelschweren Depressionen keine Wundermittel sind. Denn oft liegt eine wirksame Bekämpfung dieser Depressionen darin, den beschwerlichen Weg zu gehen, bestimmte Konflikte zu lösen, Lebensumstände zu ändern oder sein Verhalten umzukrempeln. Und genau das tut man weniger gerne, wenn man sich sagt: „Ich habe da diese Depression, da sind die Neurotransmitter durcheinander, da nehme ich jetzt diese Pille, und dann warte ich mal schön ab.“ Wenn man so denkt, schadet die Pille einem, da man erforderliche Veränderungen nicht angeht.

Eure Meinung

Wie schätzt ihr die Wirkung antidepressiver Medikamente bei der Depression ein? Was haltet ihr von der Kirsch-Studie? Kann man deren Aussage auf die reale Welt da draußen übertragen? Ich bin auf jeden Kommentar gespannt!

Wie frage ich die Cochrane Library ab?

Von vielem, was man weiß, weiß man nicht, woher man es weiß. Und nicht selten weiß man etwas, was nicht stimmt, oder von dem man halt einfach nicht weiß, ob es stimmt. Und das ist in der Medizin nicht richtig. Richtig ist, zu wissen, welchen Evidenzgrad ein mutmaßliches Wissen hat. Der einzige Weg, das herauszufinden, ist, sich einen Überblick darüber zu schaffen, welche Studien zu einer Fragestellung es gibt und diese zu bewerten. Am besten freilich ist, wenn ausgewiesene Statistikgurus zu einer bestimmten Fragestellung schon alle hochgradig geeigneten Studien an Land gezogen und zusammengefaßt haben. Und zwar nach festgelegten Protokollen, die allerlei Fehlerquellen, etwa den publication-bias, minimieren.

Die Ergebnisse dieser Arbeiten liegen in der Cochrane Library. Hier kann jeder auffinden, welche Meta-Analysen zu bestimmten Themen vorliegen und kann sich kostenlos die Zusammenfassung ansehen. Bedauerlicherweise ist der Zugriff auf den Volltext der jeweiligen reviews kostenpflichtig. Manchmal hat man aber Glück und kann sich eine auf der Cochrane Seite identifizierte Studie irgendwie bei google schießen…

Vorgehen:

  1. Ich will etwas zu einem bestimmten Thema in Erfahrung bringen. Ich will wissen, was ist gesicherte Erkenntnis, was ist nicht gesichert.
  2. Ich kann ein Lehrbuch lesen, das genau diese Informationen bereit hällt. Das ist das praktischste und schnellste. Im Gebiet der Psychiatrie ist dies in ddeutscher Sprache das Lehrbuch von Berger. (Buchbesprechung siehe hier)
  3. Zweite Möglichkeit: Ich klicke folgenden link: http://www.thecochranelibrary.com/view/0/index.html
  4. Hier finde ich zwei Suchmöglichkeiten. In der Spalte links ist ein thematisch geordneter Verzeichnisbaum. Hier kann ich beispielsweise auswählen: Mental health/Anxiety Disorder/Generalized. Klicke ich hier drauf, finden sich alle Meta-Analysen genau zu diesem Thema. Oder ich wähle die Stichwortsuche oben links auf der website. Auch dies zeigt mir alle verfügbaren Studien hierzu. Ein Klick auf den link zur Meta-Analyse meiner Wahl, und ich sehe deren Abstract. Das sieht etwa so aus:
  1. Ich tippe den Titel der Studie noch mal bei google ein, vielleicht ergänzt um ‚.pdf‘, so findet man manchmal zusätzliche Informationen.
  2. Nun tippt man bei Google Bilder den Artikelnamen und zusätzlich Forest plot ein.

Der Forest plot informiert mit einem Blick, welche Studien welches Ergebnis zeitigen und zu welchem Ergebnis die gewichtete Zusammenfassung aller Studien kommt.

  1. Fertig.