Verteidiger veröffentlicht die Gutachten im Fall Mollath

Sauber! Wie der Spiegel hier berichtet, hat der Verteidiger von Gustl Mollath, Dr. Strate, alle wesentlichen Dokumente im Fall Mollath veröffentlicht, darunter auch die psychiatrischen Gutachten. Die Seite mit den Dokumenten findet ihr hier: http://www.strate.net/de/dokumentation/index.html Die Veröffentlichung solcher Verfahrensakten ist vor Abschluss des Verfahrens in der Regel nicht erlaubt. Wie Strate hier ausführt, ist das Verfahren gegen Mollath juristisch gesehen aber gegenwärtig abgeschlossen und eine Wiederaufnahme werde beantragt. Daher dürfe er es veröffentlichen. Sehr schön, das Verfahren ist in einem Maße öffentlich, dass es erfreulich ist, dass die Gutachten nun einsehbar sind. Ich freue mich schon darauf, sie zu lesen. Auch die restliche Dokumentation ist sehr interessant. Der Fall Mollath ist geeignet, das Vertrauen in die Psychiatrie, insbesondere in die forensische Psychiatrie erheblich zu erschüttern. Es ist gut, dass Mollath jetzt frei ist und es ist erforderlich, das Verfahren sehr transparent zu gestalten. Ich hoffe sehr, dass Mollath nie mehr die Freiheit entzogen werden wird. In der Aufarbeitung des Falles geht es darum, ab welchem Zeitpunkt Fehler gemacht worden sind und ab welchem Zeitpunkt das Gericht genügend Hinweise gehabt hat, dass eine Gefahr nun nicht mehr besteht. Aus meiner Sicht war bereits die Verhandlungsführung im ersten Verfahren fehlerhaft (der Vorsitzende Richter Brixner hat ja im Nachhinein gesagt, er hätte wichtigeres zu tun gehabt, als die Verteidigungsschrift zu lesen.) einige Jahre später wurde dann auch inhaltlich klar, dass es sich bei den Aussagen Mollaths nicht um einen Wahn, sondern zumindest teilweise um die Wahrheit handelte. Ab hier hätte sich die Einschätzung des Gerichtes ändern müssen. (Danke für den link, Steffi!)

Das Stendhal-Syndrom oder: Meine Liebe zu Florenz

Dom von Florenz

Als Stendhal-Syndrom werden gewisse psychosomatische Störungen bezeichnet, wenn diese im zeitlichen Zusammenhang mit einer auf Schönheit und Anmut basierenden kulturellen Reizüberflutung auftreten. Zu den Symptomen zählen Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen.

Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde dieses nach dem französischen Schriftsteller Stendhal benannte Syndrom 1979 von der italienischen Psychologin Graziella Magherini. Eine von Magherini zehn Jahre später veröffentlichte Studie, in der sie mehr als 100 für das Stendhal-Syndrom typische Krankheitsfälle von Touristen in der Kunstmetropole Florenz beschrieb, machte das Syndrom international bekannt.

Magherini unterschied drei Varianten von Symptomen.

  • Bei einer Gruppe von Patienten äußerte sich das Stendhal-Syndrom durch Störungen des Denkens und der Wahrnehmung, die Halluzinationen und wahnhafte Stimmungen sowie tiefe Schuldgefühle bei den Betroffenen auslösten.
  • Eine zweite Gruppe entwickelte affektive Störungen, die sowohl zu Allmachtsphantasien als auch zur Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts der Fülle an Kunstschätzen führten.
  • Bei einer dritten Gruppe von Patienten trat das Stendhal-Syndrom als eine Panikattacke auf, die mit erhöhtem Blutdruck, Ohnmachtsanfällen, Bauchschmerzen und Krämpfen verbunden war.

Die meisten der vom Stendhal-Syndrom betroffenen Touristen waren zwischen 26 und 40 Jahre alt und unverheiratet. Alle Patienten waren Ausländer, zumeist aus den Vereinigten Staaten und der Nordhälfte Europas. Mehr als die Hälfte aller Patienten waren zuvor in psychologischer Behandlung. 1

Ja natürlich kann man hier in Florenz kaum noch gerade denken angesichts der umwerfenden Schönheit dieser Stadt und all der Kunstwerke, die hier zu sehen sind!

Ich bin jetzt das fünfte Mal hier und bin jedes Mal wieder komplett erschlagen von der Pracht, der Anmut und der Überfülle an Schönheit dieser Stadt. Ich kann gut verstehen, dass man da ganz durcheinander kommen kann.

Wenn es aufgrund einer besonderen Schwere der Symptomatik tatsächlich einmal zu einer Einweisung in die Psychiatrische Klinik von Florenz kommt, geht diese ganz gelassen mit dieser Art der emotionalen Tubulenz um. Ein paar Tage Ruhe, im schlimmsten Falle einige Tropfen Diazepam, dann wird das schon wieder. Und wenn der Tourist zurück in Bottrop ist, droht auch keine Wiederholungsgefahr…

Schöne Grüße aus dem Urlaub!


 

 

Editorial für iOS: Großartiges Blogging-Tool

In der Nerdspähre wird gerade ein neuer iPad Editor gehypt, der es aber auch wirklich in sich hat. Es handelt sich um Editorial. Editorial ist das Mekka der iOS Automation Geeks, das Jerusalem der blogger und die Sixtinische Kapelle der Markdown-Junkies. Und damit genau mein neues Blogging-Tool. Es hat soeben im Sturm mein bis heute heiß geliebtes Byword vom Thron gestoßen.
Aber seht selbst…

Therapieunterbringungsgesetz: Ein Etikettenschwindel

Bericht von NRW Aktuell über die Einrichtung zum Therapieunterbringungsgesetz bei Oberhausen

Da habe ich mich gerade gefreut, dass Gustl Mollath frei gelassen wurde (und er hat bislang ja offenbar noch niemandem etwas angetan, also akut gefährlich ist er in Freiheit offenbar schon mal nicht…), da kommt die Psychiatrie schon wieder auf andere Weise ins Zwielicht.

Der Bundestag hatte 2009 das Therapieunterbringungsgesetz erlassen. Dieses ist eine Reaktion auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der entschieden hatte, dass eine Sicherungsverwahrung nicht rückwirkend verhängt werden darf. Es bezieht sich dabei eher auf ein juristisches Detail. Wenn im Urteil bereits festgestellt wird, dass im Anschluss an die Strafhaft eine Sicherungsverwahrung zu prüfen sei, dann ist das rechtens. Bei einigen Straftätern in der Vergangenheit wurde das aber im Urteil nicht angesprochen und dann später, also nachträglich, angeordnet. Diese Nachträglichkeit wurde als „Strafe ohne Gesetz“ gerügt. Juristisch ist das korrekt, in den Konsequenzen aber bedenklich.

Wie hat sich der Gesetzgeber nun verbogen, um auch solche schweren Straftäter in einer Sicherung zu verwahren, bei denen das im 10 Jahre zurück liegenden Urteil noch nicht antizipiert wurde, aber dennoch als notwendig erachtet wird? Es schuf das Therapieunterbringungsgesetz (TUG). Unter recht nebulösen Formulierungen wird hier geregelt, dass ein Täter nun doch nachträglich untergebracht werden kann, um eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit abzuwehren. Es handelt sich beim TUG also um eine nachträgliche Sicherungsverwahrung durch die juristische Hintertüre. Nun kann man erst mal darüber streiten, ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht vielleicht einfach Recht hat und seine Entscheidung mit allen Konsequenzen getragen werden muss. Das kann bei bestimmten Tätern, deren Sicherungsverwahrung aufgehoben werden müßte, verantwortbar sein, bei manchen anderen möglicherweise nicht.

Was mich aber erheblich stört, ist, dass hier die Psychiatrie mal wieder hervorgezerrt wird, um so zu tun, als behandele man hier ganz barmherzig Kranke. Das Gesetz heißt “Therapieunterbringungsgesetz”, obwohl die Therapie hier wirklich ganz hinten ansteht. Auch die Eingangsvoraussetzungen sind gerade mal, dass der Unterzubringende “eine psychische Störung” hat. Was bitte ist eine psychische Störung im Kontext eines Wiederholungstäters schwerer Verbrechen. Und welcher Täter dieser Gruppe könnte keine “psychische Störung” haben?

Die DGPPN kritisiert in ihrer Stellungnahme sehr klar den Etikettenschwindel, der hier betrieben wird.

In NRW wurde 2011 erstmalig ein Straftäter nach dem TUG untergebracht. Hierfür wird eine ehemalige, nun umgebaute und umgewidmete JVA in der Nähe von Oberhausen verwendet (siehe das Video oben…).

Das Bundesverfassungsgericht hat nun festgestellt, dass das TUG bei strenger Auslegung verfassungskonform sei und einen „Freiheitsentzug ohne Strafe“ hinreichend begründen könne.

Aus meiner Sicht kann es erforderlich sein, bestimmte Wiederholungstäter sehr schwerer Straftaten auch nach Ablauf der regulären Straftat zur Sicherung unterzubringen.

Das hat aber nichts mit Psychiatrie zu tun. 

Es ist eine juristische und politische Maßnahme. Den Etikettenschwindel der “Therapie” von “psychischen Störungen” lehne ich ab.

Do something different !

Die „Do-something-different-Regel“ ist ganz einfach: 

Ersetze jeden Tag eine Deiner Routinen durch eine Variation.

Unser Erwachsenenleben besteht zu einem erschreckend hohen Teil aus Routinen: Aufstehen, Duschen, immer auf dem gleichen Weg zur Arbeit fahren, irgendwie immer alles gleich machen. Hat ja auch Vorteile.

Hat aber auch Nachteile. Du verpasst was. Das Vorgehen ist so: Du machst jeden Tag eine Sache anders, als sonst:

– Fahr statt mit der Straßenbahn mit dem Fahrrad zur Arbeit

– Erledige die Routineaufgaben Deiner Arbeit mal in einer anderen Reihenfolge oder mit einer anderen Methode

– Beantworte Deine Arbeitsemails während der Arbeitszeit im Park sitzend mit dem iPad

– Koch etwas, was Du noch nie gekocht hast

– Ruf mal einen alten Schulfreund an

– Geh in einen ganz ganz schlechten Kinofilm

– ….

Du wirst überrascht sein, wie oft Du eine Verbesserung feststellst. Bei schönem Wetter wirst Du viel öfter mit dem Rad zur Arbeit fahren und das Büro ist nicht mehr Dein einziger Arbeitsplatz. 

Im wirklich äußerst empfehlenswerten Buch: „Machen, nicht denken!“ habe ich jetzt auch gelesen, dass das auf wissenschaftlich „Do-something-different“ heißt. ich dachte vorher immer, ich hätte das selbst erfunden, und habe es immer die „10-Prozent-Regel“ genannt. Besagte, dass man 10 Prozent der Dinge, die man tut, anders tut als sonst oder einfach etwas ganz anderes macht. Wie man es auch nennt, auf jeden Fall macht ein gerüttelt Maß an Variation glücklicher, versprochen!

Schreibt in die Kommentare, was ihr heute anders gemacht habt! Ich mache den Anfang…

Kirsch-Studie: Wirksamkeit der Antidepressiva

Kirsch Studie

Zu den Klassikern der psychiatrischen Forschung gehört neben der CATIE-Studie, über die ich hier berichtet habe, auch die Kirsch-Studie. Sie berichtet über eine vom englischen Psychologen I. Kirsch 2008 publizierte Meta-Analyse, die die Wirksamkeit antidepressiver Medikamente in Abhängigkeit vom Schweregrad der Depression untersucht. Eingegangen in diese Meta-Analyse sind alle Zulassungsstudien von vier ausgewählten Antidepressiva. Das Ergebnis ist, dass sich die Wirksamkeit der Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen    nicht signifikant vom Placebo-Niveau unterscheidet. Lediglich bei schwergradigen Depressionen ist die Medikation Placebo überlegen.

Die Arbeit im Original

Das Original der Studie könnt ihr hier herunterladen, und ich empfehle, das zu tun und die Studie einmal aufmerksam zu lesen.

Methode

Die Meta-Analyse von Kirsch bezieht dabei für die Antidepressiva Fluoxetin, Venlafaxin, Nefazodon und Paroxetin alle eingereichten Zulassungsstudien ein, also die veröffentlichten wie die unveröffentlichten.

Eines der größten Probleme im Prozess des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnes ist der publication bias. Dieser ergibt sich aus der Fehlerquelle, dass Studien, die eine Wirksamkeit eines Medikamentes zeigen, mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit publiziert werden, als Studien, die keine Wirksamkeit zeigen. Untersucht man dann nur die publizierten Studien, kommt man selbst bei einem Präparat, dass viele Nachweise der Unwirksamkeit hat, von denen keine publiziert ist, und einen Hinweis auf Wirksamkeit, das publiziert ist, zum Ergebnis, es ist wirksam. Denn es gibt ja nur eine publizierte Studie, und die zeigt Wirksamkeit.

Ergebnisse

Ergebnisse Kirsch Studie
Ergebnisse Kirsch Studie

Auf der Grafik oben ist nach rechts die Schwere der Depression zu Beginn der Studie aufgetragen. Auf der nach oben zeigenden Achse ist die Verbesserungsrate der einzelnen Studien aufgetragen, wobei ein Wert von 1 keiner Verbesserung entspricht, Werte über 1 einer Verbesserung und Werte unter 1 einer Verschlechterung am Ende der Studie, jeweils gemessen am HAMD.  Als rote Dreiecke um die rote Durchschnittslinie sind die Daten der Antidepressivagruppen aufgezeichnet, als weiße Punkte um deren gestrichelte Durchschnittslinie sind die Placebogruppen aufgezeichnet. Jedes Dreieck und jeder Kreis steht für eine Studie. Je größer Dreieck oder Kreis sind, desto größer war die zugrunde liegende Studie und desto mehr ging sie in das Endergebnis ein.

Die Ergebnisse der Meta-Analyse von Kirsch sind ernüchternd. Die Grafik zeigt, dass die Wirkung der Antidepressiva erst im Bereich der sehr schweren Depressionen (ganz rechts, ab einem HAMD von > 28) signifikant besser ist als die von Placebo. Und dies geht weniger auf eine zunehmende Wirkung der Medikation bei zunehmender Schwere der Depression zurück als vielmehr auf eine abnehmende Placebowirkung bei schwereren Depressionen.

Kontroverse

Die Studie von Kirsch führte zu einer lebhaften Kontroverse. Viele Stimmen kamen auf, die ausführten, dass man aufgrund methodischer Einschränkungen die Ergebnisse der Studie nicht auf die tatsächliche Wirksamkeit von Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen übertragen könne. Dabei muss man schon sagen, dass einige dieser Stimmen auch regelmäßig von Pharmafirmen Vortragshonorare erhalten… Auch die klinische Erfahrung spreche gegen die Aussage der Studie. Auch handelt es sich bei den untersuchten Substanzen mit Ausnahme des Venlafaxins um alte und eher nicht so prominente Substanzen. Möglicherweise sind die neueren Antidepressiva ja wirkstärker.

Einige wenige sagten auch: „An der Kirsch-Studie kann am Schluss vielleicht auch was dran sein…“

Meine Meinung

Placebos wirken bei Schmerzen, Ängsten, Depressionen, Schlafstörungen und bei sehr vielen anderen ordentlichen Krankheiten gar nicht mal so schlecht. Ich verschreibe keine Placebos, aber in allen Studien zeigt sich, dass sie eine recht deutliche Wirkung haben. Und das ist natürlich völlig in Ordnung und gar nicht verwerflich. Gibt man ein Antidepressivum, hat es zunächst mal auch den Effekt, den ein Placebo hätte, plus den Effekt seiner eigentlichen substanzspezifischen Wirksamkeit.

Der Unterschied zwischen Antidepressiva und Placebo ist bei leichten und mittelschweren Depressionen möglicherweise nicht so groß, wie wir uns das immer wünschen. Bei schweren Depressionen wirken die Antidepressiva tatsächlich besser als Placebo. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass bei schweren Depressionen Placebos nicht sehr viel bewirken.

Es ist sehr wichtig, sich klar zu machen, dass Antidepressiva gerade bei leichten und mittelschweren Depressionen keine Wundermittel sind. Denn oft liegt eine wirksame Bekämpfung dieser Depressionen darin, den beschwerlichen Weg zu gehen, bestimmte Konflikte zu lösen, Lebensumstände zu ändern oder sein Verhalten umzukrempeln. Und genau das tut man weniger gerne, wenn man sich sagt: „Ich habe da diese Depression, da sind die Neurotransmitter durcheinander, da nehme ich jetzt diese Pille, und dann warte ich mal schön ab.“ Wenn man so denkt, schadet die Pille einem, da man erforderliche Veränderungen nicht angeht.

Eure Meinung

Wie schätzt ihr die Wirkung antidepressiver Medikamente bei der Depression ein? Was haltet ihr von der Kirsch-Studie? Kann man deren Aussage auf die reale Welt da draußen übertragen? Ich bin auf jeden Kommentar gespannt!

Gustl Mollath ist frei

Das Oberlandesgericht Nürnberg hat heute einem Mann Recht zugesprochen, der seit sieben Jahren aufgrund falscher Voraussetzungen im Maßregelvollzug untergebracht war. Es erklärte das Gerichtsverfahren, das Gustl Mollath in die Forensik eingewiesen hat, für fehlerhaft. Daher ist er heute entlassen worden. Eine andere als die damals zuständige Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth muss nun klären, ob eine Unterbringung erforderlich ist. Zuletzt hatte es da sehr erheblichen Zweifel gegeben.

Ich bin sehr froh, dass Mollath frei ist. Seine Unterbringung war falsch und unverhältnismäßig.

Zur genaueren Erklärung des Urteils siehe hier.

Der Hund kann gar nicht sprechen

Intelligenz und Begabung sind normalverteilte Ausprägungen. Es gibt immer einige, die sind intelligenter und begabter als andere. Wenn ich aber alle paar Monate mal wieder eine Fernsehdokumentation über irgendeine Familie sehe, die für sich entschieden hat, dass ihre Brut nun hochbegabt ist, dann bekomme ich reflektorisch Mitleid mit den Kindern.

Zumeist handelt es sich doch um Eltern, bei denen zumindest ein Elternteil völlig verstiegen in die Idee ist, dass sein Kind etwas besonderes ist und total gefördert werden muss. Es folgen täglich stundenlange gnadenlose Trainingseinheiten, in denen zweijährige Kinder Chinesisch lernen müssen. Können Sie dann kurze Sätze in Chinesisch, gilt das als Beweis ihrer Hochbegabung. Hallo? Jedes zweijährige chinesische Kind kann sich auf chinesisch verständigen, das ist völlig normal, wenn man es übt. Sind jetzt alle chinesischen Kinder hochbegabt?

Sichere Zeichen, dass das Kind normal und die Eltern verbohrt sind: * Die Familie hat mehrere hochbegabte Kinder. * Klavierspielen lernt der vierjährige Dennis am KONSERVATORIUM. * Die Hochbegabung ist so vielschichtig, dass der Trainingsplan Reiten, Balett, Klavierspielen und Englisch (oder eben Chinesisch) enthällt. An Freizeit verbleiben pro Tag möglichst nur 30 Minuten. * Ein Elternteil ist beruflich in der glücklichen Lage, sich ganztags dem Training zu widmen…

Von mir aus kann ja jeder seinen Spleen leben. Aber dieses Etikett “Hochbegabt” hat auch Nebenwirkungen. Zum einen muss die Lara mindestenz zwei Klassen gleichzeitig überspringen, da sie sich sonst ja langweilt. Was zur Folge hat, dass sie in ihrer Klasse keine Freundinnen und erst recht keinen Freund mehr finden kann. Die Pubertät und die emotionale Entwicklung sind nämlich ihrer Zeit nicht voraus. Meiner Meinung nach sollten begabte Kinder die Freiheit haben, ihren Neigungen nachzugehen und das kann sicher dazu führen, dass sie frühzeitig in bestimmten Bereichen sehr weit sind. Aber ich kenne keinen einzigen erwachsenen Pianisten, Kernphysiker oder Sinologen, der als Kind das Leben des Hochbegabten geführt hat. Also laßt die Kinder sich doch ganz in Ruhe entwickeln…